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Zu früh gefreut

Leben

Zu früh gefreut

  • Redaktion: Viviane Stadelmann; Foto: iStock

Knigge hat unsere Autorin Viviane Stadelmann bisher nicht sonderlich interessiert – bis sie mit der Zahnbürste im Mund von einem Gast überrascht wurde. Einem Zufrühkommer! 

Haben Sie schon mal mit entschuldigendem Blick und vollkommen verschwitzt von der Hetzerei die platte Ausrede «Besser spät als nie» fallen lassen? Bestimmt. Die Redewendung rangiert auf der Beliebtheitsskala auf gleicher Höhe wie «Die Zeit heilt alle Wunden» – weil den meisten Menschen nun mal ständig Mist passiert oder die Zeit davonläuft. Dabei müsste es eigentlich heissen: «Besser spät als zu früh!»

Wenn jemand zu früh kommt, gibt es auf beiden Seiten nur Verlierer. Sitzt man eine halbe Stunde vor der Verabredung in einem Café, langweilt man sich. Das Bein fängt an zu wippen, der Blick schweift umher, immer auf der Suche nach dem bekannten Gesicht, das hoffentlich gleich um die nächste Ecke stürmt, die Hand schon zum Winken angesetzt. Wenn die Person dann endlich auftaucht – wohlgemerkt pünktlich, gibt man ihr automatisch und ungerechtfertigt das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Kommt die Person sogar fünf Minuten zu spät, ist es vorbei mit dem Verständnis. Dabei sind fünf Minuten Verspätung doch gar nicht schlimm.

Noch unangenehmer wird es, wenn man Gäste zu sich nachhause eingeladen hat. Aus Sicht des Zufrühkommers mag sich die Situation vielleicht so darstellen: Extra eine Zugverbindung früher ausgewählt, damit man nicht zu spät kommt, selbst dann, wenn Google Maps von Haltestelle bis Wohnung nur eine Minute berechnet. Tatsächlich findet man die Wohnung in kürzester Zeit und zögert dann einen Moment, ob man nun wirklich schon klingeln soll. Man schickt noch eine Nachricht – «Brauchst du noch Hilfe bei der Vorbereitung?» – in der Hoffnung, sich ohne Verlegenheit nicht länger im Innenhof rumdrücken zu müssen. Wenn keine Antwort kommt, wird nach weiteren fünf Minuten geklingelt. Man kennt sich ja.

Allerdings ist der Grund, warum auf die Nachricht keine Antwort kommt, folgender: Das Meeting hat doch länger gedauert, und auf dem Nachhauseweg wollte man noch kurz Blumen und die letzten Zutaten fürs Dinner besorgen. Natürlich hat die ganze Stadt an diesem Abend plötzlich auch eine unbändige Lust auf eines dieser Produkte, man steht vor leeren Regalen und muss noch zum nächsten Delikatessenladen. Zuhause angekommen, bereits eine Stunde hinter dem Zeitplan, empfangen einen fröhlich die Staubmäuse im Wohnzimmer. Man steckt in einer Late-Twenties-Phase, mitten im Umbruch, in dem Parmigiana die Instant-Nudeln abgelöst hat und man sich langsam zutraut, einen 3-Gänger für zehn Personen aufzutischen. Heisst aber auch, noch nicht allzu routiniert unvorhergesehene Zwischenfälle in der Küche auszubügeln. Man befindet sich also mitten im Wettstreit mit sich selbst und vor allem gegen die Zeit. Schliesslich will man gut vorbereitet, frisch geduscht, mit einem Lächeln im Gesicht und dem Finger schon am Prosecco-Korken, seine Gäste pünktlich empfangen. Während das Adrenalin einschiesst, das Hirn fünf Schritte vorausdenkt, man gleichzeitig Zähne putzt und das Küchenchaos beseitigt, klingelt es. Peng. Leider ist nicht der Prosecco entkorkt, sondern die Hoffnung geplatzt, diesmal zehn von zehn Punkten beim «Perfekten Dinner» zu kassieren.

Deshalb, liebe Zufrühkommer, macht doch bitte noch einen Abstecher zum nächsten Blumenladen oder Weinregal, auch wenn ihr dann fünf Minuten zu spät kommen solltet. Geht nochmals in aller Ruhe auf dem Trottoir auf und ab und googelt dabei den Knigge, denn: «Auch wer zu früh erscheint, ist unpünktlich.»