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Zu alt für den Job?

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Zu alt für den Job?

Über 50-Jährige gelten bei den meisten Arbeitgebern noch immer als Wettbewerbsnachteil und werden eher raus- statt eingestellt. Das ist nicht nur spiessig, sondern unternehmerisch fahrlässig.

Es waren diese Sätze, die den ganzen Abend nachhallen würden: «Weisst du», eröffnete mir eine Freundin, Journalistin wie ich, als wir beim Chinesen auf das Essen warteten, «ich habe jetzt noch ein Jahr Zeit, um mich neu zu orientieren. Danach wird es wohl zu spät sein.» – «Aber warum denn?», fragte ich beunruhigt. «Ich werde 50.» Ich hob die Augenbrauen. «Na ja, was soll ich denn sagen? Ich bin 53 – seht her, ich lebe noch?» Meine Freundin lächelte nicht. «Aber was, wenn dein Umfeld darauf gepolt ist, dass du mit 50 alt bist und nicht mehr attraktiv genug für den Arbeitsmarkt? Das macht mir Angst.» Ich holte Luft, um dem etwas entgegenzuhalten, einen klugen Spruch wie: «Ach was, mit 50 weisst du ja erst langsam, wie es geht. Das macht dich doch erst recht attraktiv.» Aber ich schwieg. Denn es ist nicht das erste Mal, dass ich diese Angst ausgesprochen hörte.

Seit ich selber die 50 überschritten habe, höre ich sie immer öfter, von Freunden und Bekannten, und je genauer ich hinhöre, desto lauter wird sie. Vor Kurzem erzählte mir eine Bekannte, eine Freelancerin in der PR-Branche, dass sie seit Monaten trotz Herzproblemen und einer Diskushernie täglich arbeitet, wenn es sein muss, sogar liegend, aus Angst davor, keine Aufträge mehr zu erhalten. «Ich bin 58», sagte sie den Tränen nahe, «bist du mal draussen, will dich keiner mehr.» Und ein enger Freund gestand, dass er nicht mehr schlafen kann, seit man ihm eröffnet hat, dass er aufgrund einer Restrukturierung seine Stelle verlieren würde, und ihn zur Frühpensionierung drängte. Er ist 59, Sachbearbeiter in einem nationalen Elektroindustriebetrieb, gerade bei jüngeren Kollegen beliebt und bewundert für seine Fachkompetenz und seine umgängliche Art. Dass er nun so lapidar «entsorgt» werden sollte, kränkte ihn, zudem litt er an Existenzängsten, eine Frühpensionierung konnte und wollte er sich nicht leisten. Da solle man einerseits künftig länger arbeiten, meinte er aufgebracht, andererseits würden ältere Mitarbeiter, selbst wenn sie noch so qualifiziert sind, ausrangiert. «Das ist doch absurd.» Damit bringt er auf den Punkt, was im Scheinwerferlicht der öffentlichen Debatten noch weitgehend ein blinder Fleck ist: Die Diskrepanz zwischen den Diskussionen um eine Erhöhung oder Flexibilisierung des Rentenalters zur Sanierung der AHV und Behebung des drohenden Fachkräftemangels und dem geringen Interesse von Unternehmen an Menschen, die das werberelevante Zielgruppenalter von 14 bis 49 überschritten haben. Die Angst, ab 50 zu den potenziell Ausgeschlossenen zu gehören, nährt Wut und Unsicherheit – es ist ein Phänomen, das jedoch keineswegs neu ist.

«Seit zwanzig Jahren diskutiert man über den Wert älterer Arbeitskräfte, aber passiert ist nicht viel», sagt der Alters- und Generationenforscher François Höpflinger. Hartnäckig würden 50-Plussern Leistungs- und Innovationsfähigkeit abgesprochen, würde höheres Alter mit geringer Flexibilität assoziiert. Eine Haltung, die angesichts des rasch wachsenden Anteils eben dieser Bevölkerungsgruppe geradezu anmassend ist. Derzeit liegt das Durchschnittsalter der Schweizer Bevölkerung bei rund 43 Jahren, über ein Drittel der Erwerbstätigen ist über 50, Tendenz steigend. Dieser Trend geht längst auch mit einem neuen gesellschaftlichen Selbstverständnis einher. «Alt? Das ist man doch heute erst ab 80», so die Lösung, und die ist nicht bloss ein Mantra eingeschworener Anti-Agerinnen, sondern Ausdruck von steigendem Wohlstand, besserer Bildung und einer bewussteren Lebensweise. In Industrienationen liegt die durchschnittliche Lebenserwartung derzeit bei 80 Jahren, in der Schweiz können künftige Generationen davon ausgehen, 94 und älter zu werden. Längst hat die Fitness- und Kosmetikindustrie die «Plus-Ager» für sich entdeckt, ihr Slogan «50 ist das neue 30» trägt die verheissungsvolle Botschaft in sich, dass das biologische Alter relativ, vor allem aber kraft eigenen Zutuns beeinflussbar geworden ist. Das hat auch zur Folge, dass die Generationszugehörigkeit subjektiv empfunden wird, so Höpflinger. 60-Jährige fühlten sich 40-Jährigen oft näher als Gleichaltrigen oder älteren. So gesehen, kommt die Anti-Aging-Politik des Arbeitsmarkts fast schon einer Kränkung gleich. Zur Entwarnung: Es ist nicht so, dass jemand automatisch entsorgt wird, sobald die Fünf in der Altersanzeige einrastet. Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind von den 57-Jährigen noch 91 Prozent der Männer und 81 Prozent der Frauen erwerbstätig, erst bei den 64-jährigen Männern sinkt die Erwerbsquote auf 52, bei den 63-jährigen Frauen auf 46 Prozent. Zudem unterscheidet sich die Arbeitslosenquote der 50-Plusser kaum von jener der jüngeren. Mit steigendem Altererhöht sich also weniger das Risiko, die Stelle zu verlieren, sondern, und das ist die Krux, jenes, keinen Job mehr zu finden, wenn man mal arbeitslos ist. Oder sich neu orientieren will.

Das Stigma gegenüber der Nicht-mehr-ganz-Jungen

So befanden sich seit 2017 knapp ein Drittel der Arbeitslosen über 50 länger als ein Jahr auf Stellensuche, bei den 25- bis 49-Jährigen waren es gut 12 Prozent. Ab 55 Jahren steigt das Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit an, wobei der Anteil der langzeitarbeitslosen Frauen mit 30 Prozent besonders hoch ist, ab 60 Jahren verdoppelt es sich. Um den Unmut in der Bevölkerung abzufedern, will der Bundesrat über 60-Jährigen nach einer Aussteuerung eine existenzsichernde Überbrückungsleistung gewähren. Reine Symptombekämpfung, denn das Risiko, aufgrund von Arbeitslosigkeit in der Sozialhilfe zu landen, das belegen neue Zahlen, erhöht sich bereits bei 46-Jährigen. Gebetsmühlenartig werden die Gründe hierfür genannt: Zu wenig oder veraltetes Fachwissen, zu geringe Mobilitätsbereitschaft, meistens aber schnellt als Erstes das Prädikat «zu teuer» hoch. Und in der Tat: Da die Beiträge an die zweite Säule in der Regel zur Hälfte vom Arbeitgeber übernommen werden, sind die Lohnkosten älterer Personen höher als bei jüngeren mit dem gleichen Lohn. In der Reform der Altersvorsorge 2020 hatte der Bundesrat deshalb vorgesehen, die Beitragserhöhungen ab dem Alter von 55 Jahren abzuschaffen, doch wurde dieser Vorschlag vom Parlament verworfen. Neu soll eine Vorlage erarbeitet werden, die darauf abzielt, die Altersgutschriften zu senken. Immerhin. Ob dies aber das Stigma der Ü-50er verringert, ist fraglich. Zu tief sitzt das Unbehagen gegenüber den Nicht-mehr-ganz-Jungen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD geht gar so weit, hinter der tiefen Einstellungsrate bei über 55-Jährigen altersbedingte Diskriminierung zu vermuten. Und die ist, wie sie in ihrem Arbeitsbericht 2014 festhält, im Gegensatz zu fast allen anderen OECD-Ländern «in der Schweiz gesetzlich nicht verboten und nach wie vor verbreitet.» Eine Umfrage des Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsunternehmens Deloitte unter CEOs und HR-Verantwortlichen ergab, dass bloss 20 Prozent der Schweizer Unternehmen ältere Frauen und Männer zur Linderung des Fachkräftemangels rekrutieren, ein Drittel erachten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 50 sogar als Wettbewerbsnachteil: So erklärte man etwa meiner 54-jährigen Kollegin, dass sie für den Job, für den sich beworben hatte, super wäre – wäre sie bloss zwanzig Jahre jünger. «Aber wäre ich zwanzig Jahre jünger», meint sie, «wäre ich ja nicht so super. Dass dieser Gedankengang nicht gemacht wird, ist gaga. Da wird immer so getan, als ob alle 50-Jährigen gleich wären. Ein solches Schubladendenken ist doch nur noch spiessig.» Damit nicht genug. Hartnäckig hält sich die Kunde von Algorithmen, die Bewerbungsdossiers von über 50-Jährigen automatisch aussondieren sollen.

Wo ein Markt ist, muss auch ein Wille sein

Letzten Mai enthüllte der Finanzblog Inside Paradeplatz im Beitrag «Job-Dossiers von Ü-50 landen im Altpapier», dass ältere Menschen vom Jobvermittler Adecco nicht einmal mehr für vakante Stellen vorgeschlagen würden. Im Blogpost wurde ein anonymer Facebook-Nutzer zitiert, der im «Forum der Armutsbetroffenen Schweiz» festgehalten hatte, dass ihm eine Sachbearbeiterin des Jobvermittlers am Telefon gesagt habe, Firmenkunden würden nichts bezahlen, wenn sie Dossiers von über 50-Jährigen erhielten. Adecco stellt diese Aussage auf Anfrage von annabelle nicht in Abrede, distanziert sich aber davon: «Wir rekrutieren Kandidaten unabhängig von Geschlecht, Alter und Herkunft», erklärt Annalisa Job, Kommunikationsverantwortliche von Adecco Switzerland. Der erwähnte Fall entspreche weder ihrer Geschäftspraxis noch ethischen Standards. Sie hätten Massnahmen ergriffen, um Mitarbeitenden und Kunden den Wert von Ü-50-Kandidaten für Unternehmen näherzubringen. Und das ist längst überfällig. Schon 2030 werden in der Schweiz branchenweit bis zu einer halben Million Arbeitskräfte fehlen, rechnet der Wirtschaftsprüfer Deloitte in seiner neuesten Studie vor. Dies, weil der Anteil der Pensionierten in der Schweizer Bevölkerung zunimmt, während die Zahl der Jungen, die auf den Arbeitsmarkt nachrücken, relativ konstant bleibt. Es ist eine altbekannte Rechnung, eine Rechnung aber, die den Blick auf die «Alten» grundlegend verändern muss. Höchste Zeit also für einen Paradigmenwechsel. Wo ein Markt ist, muss auch ein Wille sein. «Gerade im Hinblick auf die fehlenden Arbeitskräfte tun Firmen gut daran, das Potenzial von 50-Plussern zu erkennen», sagt Michael Grampp, Chefökonom von Deloitte und Leiter des Schweizer Research-Teams. Ältere Menschen sind oft überdurchschnittlich qualifiziert und motiviert. Wer diese Gruppe weiterhin als nachteilig wahrnimmt und bei der Rekrutierung bloss auf Jüngere setzt, begeht einen strategischen Fehler.» Andreas Rudolph, Direktor der Outplacement-Firma Lee Hecht Harrison, einer Tochtergesellschaft von Adecco, formuliert es noch nachdrücklicher: «50-Plusser sind ein Marktvorteil.» Unter der Bedingung aber, wie er betont, dass Unternehmen gezielt in Weiterbildung investieren, und zwar nicht bloss in digitales Knowhow, sondern auch in Sprachen, allem voran in Englisch, sowie in Auftrittskompetenzen. «Heute geht es vermehrt darum: Wie präsentieren Sie sich? Wie kommunizieren Sie?» Dies erfordere auch den Willen zur Weiterbildung von 50-Plussern selbst. Zu viele, so Rudolph, würden noch in der Haltung verharren, neue Anforderungen mit ihrer Lebenserfahrung kompensieren zu können. «Das funktioniert nicht mehr.»

Zur Steigerung des Marktwerts der 50-Plusser gehört auch ein mutiges Plädoyer für eine Flexibilisierung des Rentenalters. Denn nicht selten wirkt die «Altersguillotine 65» lähmend, erstickt Neugierde, berufliche Perspektiven und die vielbeschworene Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Eine Flexibilisierung würde Unternehmer dazu zwingen, Visionen zu generieren, bewusst in 50-Plusser zu investieren, Arbeitsmodelle zu entwickeln, die über die gängigen Teilzeitstrukturen hinausgehen – etwas, das auch von den Generationen Y und Z eingefordert wird – und last but not least: den Begriff Diversity endlich so zu erweitern, dass nicht mehr nur Geschlecht und sexuelle Orientierung, sondern auch Altersgruppen miteinbezogen werden. Die Bereitschaft für eine Flexibilisierung des Rentenalters ist durchaus vorhanden. Wie die eben erschienene Deloitte-Studie zeigt, hätten 30 Prozent der bereits pensionierten Personen gern weitergearbeitet, hätte die Möglichkeit dazu bestanden. Mehr noch: 40 Prozent aller Erwerbspersonen im Alter von 50 bis 64 Jahren würden – Stand heute – gern über die Pensionierung hinaus arbeiten. Das bedeutet nun aber nicht, dass mit diesem Wunsch zwingend die Lust mitschwingt, an einer konventionell-linearen Laufbahn festzuhalten. Denn nebst dem klassischen Karrierebegriff gewinnen «Bogenkarriere» (man gibt nach und nach Status und Pensum ab) und «Wellenkarriere» (man beginnt immer wieder mal von vorn) an Boden. In diesem Bereich operiert unter anderem die Neustarter-Stiftung, eine Organisation, die Menschen jenseits der 49 dabei unterstützt, sich in der Arbeitswelt neu zu positionieren. «Veränderungsbereitschaft ist keine Frage des Alters», betont Bernadette Höller, Geschäftsführerin der Stiftung. Um eine berufliche Veränderung in der zweiten Lebenshälfte normaler zu machen, entwickelt sie gemeinsam mit Unternehmen Strategien für «generationenfreundliches Talentmanagement», organisiert Stammtische und Workshops, ermöglicht Praktika für Ältere oder unterstützt selbständige Neustarter.

Man will sie wegen ihrer Erfahrung

Eine dieser Start-upperinnen ist Christiane Gräber (59), einst Schulleiterin und Mediatorin, heute professionelle Redenschreiberin – und Expertin für Grabreden. Christiane Gräber ist eine eindrückliche Frau, gross, gertenschlank, hat drei erwachsene Kinder. Nach einer Krise wollte sie nicht mehr in ihren Beruf zurück. Monatelang suchte sie eine neue Stelle, liebäugelte mit einem Branchenwechsel. Doch galt sie entweder als zu alt, obwohl man ihr das nie direkt sagte, sondern immer nur eine kaum hörbare Pause machte, wenn sie danach fragte, ob ihr Alter der Grund für die Absage gewesen sei; oder sie galt als überqualifiziert, nicht selten wurde sie sogar als Bedrohung wahrgenommen. «Mittlerweile erkenne ich Schwachstellen in einem System sofort und benenne sie auch», sagt sie. «Zudem bin ich nicht mehr bereit, verquere Chef-Entscheidungen mitzutragen. Das kommt oft nicht gut an.» Irgendwann hatte sie genug davon, in der Sackgasse zu sitzen. Sie wollte etwas «Sinnhaftes tun», etwas, mit dem sie jegliche Altersschranken hinter sich lassen würde. Schon lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, aus ihrem Talent als Rednerin ein Business zu machen. In einem Coaching holte sie sich das Starter-Kit für ihre Pläne. Lernte zu fragen: Gibt es einen Markt für das, was ich anbieten will? Wie formuliere ich mein Angebot? Und vor allem: Wie vermarkte ich mich? Denn Klinken zu putzen, das wusste sie, würde ihr schwerfallen. Vor gut einem Jahr gründete sie ihr Start-up «Gräber Reden» und nach einer Durststrecke beginnt das Business anzuziehen, endlich kann sie sich sogar einen bescheidenen Lohn auszahlen. Viele Aufträge kommen über persönliche Empfehlungen, immer mehr aber auch über Altersheime, Palliativstationen und Bestattungsämter. Man will sie, gerade wegen ihrer Erfahrung, wegen ihres Alters. Ihr Erfolgsrezept hört sich so an: «Verfeinern, vervielfältigen, dranbleiben und durchhalten.» Und das tönt nun gar nicht nach Grabrede.