Die Bündnerin Letizia «Zia» Reato setzt sich für Wildpferde ein und arbeitet auf einer Rinderfarm in New Mexico. Schriftstellerin Milena Moser wohnt quasi um die Ecke und hat sie für uns besucht.
Tut mir leid, dass ich nicht zurückgerufen habe – ich steckte unter einer Kuh fest.» Eine Entschuldigung, die man selten hört. Ich versuche, Letizia «Zia» Reato zu erreichen, eine junge Bündnerin, die hier in New Mexico wilde Pferde zureitet. Und auf einer Rinderfarm arbeitet. Ein Cowgirl also, im Wortsinn. «Die Kuh hatte Blähungen», erklärt sie mir. In so einem Fall sticht man dem Tier unzeremoniell ein Messer in den Bauch. Die Luft entweicht, die Kuh fällt um. «Ich stand dummerweise am Kopfende. Ihre Hörner klemmten am Boden fest.» Zia lacht. Alltag auf der Ranch.
Die Fahrt von Santa Fe nach Springer dauert gut zwei Stunden und führt mich in eine Gegend, die mir vollkommen fremd ist. Obwohl ich seit drei Jahren hier lebe, bin ich noch nie weiter nördlich als Taos gekommen. Ich erkenne die Landschaft nicht mehr. Mein New Mexico besteht aus dramatischen Felsformationen und zerklüfteten Mesas, aus goldenen Espenwäldern und blauen Bergen. Hier oben aber ist es – flach. Eine unendliche Weite. Sonnenverbrannte, gelbgrüne Weiden dehnen sich bis zum Horizont, lösen sich im endlosen Blau des Himmels auf. Wie ausgestorben liegt Springer in der sommerlichen Morgenhitze. Mit ihren heruntergekommenen Gebäuden, den verblichenen Schildern und der unheimlichen Stille, die über ihr liegt, würde die kleine Stadt eine perfekte Filmkulisse für einen Western abgeben.
Ich halte wie angewiesen neben dem Pferdetransporter und steige aus. Vor dem Korral stehen vier oder fünf Pferde, zwei davon gesattelt. Zia und Clayton, ihr Chef für diesen Sommer, verarzten einen jungen Stier, der sich am Bein verletzt hat. Ich stehe am Gatter und schaue ihnen dabei zu, während die Pferde mich anschnauben und anstubsen. Das Gefühl, mich in einem Film zu bewegen, in einem Pferdemädchentraum aufgewacht zu sein, überfällt mich hier immer wieder und heute besonders.
Zia wischt sich die mit Wundsalbe verschmierten Hände an der Hose ab, bevor sie mich begrüsst. «Ich vergesse immer die Handschuhe …» Die Dreissigjährige trägt Jeans, ein kariertes Hemd, an den Nähten eingerissene Stiefel, eine beim Rodeo gewonnene Gürtelschnalle, einen breitkrempigen Hut. Das Cowgirl aus dem Bilderbuch, aber vollkommen ungekünstelt.
«Hast du Hunger?»
«Sag ja», raunt Clayton. Von Zias Kochkünsten wird mir an diesem Tag noch oft vorgeschwärmt werden. Ich nicke also. Clayton treibt zwei der Pferde in den Anhänger, Zia reitet ein drittes auf die Weide zurück. Sie krallt sich in der Mähne fest, schwingt sich aus dem Stand auf den ungesattelten Pferderücken und galoppiert davon. Ich starre ihr nach: Ihre Silhouette ist von der des Pferdes nicht zu unterscheiden, sie ist eins mit dem Tier.
«Ich habe schon als Baby gejauchzt, wenn ich ein Pferd sah!»
Zu ihrem fünften Geburtstag schenkte ihr ihre Mutter einen Ponyritt. Doch das brave Tier, das den ganzen Tag gehorsam im Kreis herumgetrottet war, beschloss ausgerechnet in diesem Moment, es sei genug. Riss sich los und galoppierte zum Stall zurück. Zia rutschte vom Sattel, landete rücklings auf dem Ponyhintern, konnte sich mit einer Hand gerade noch festhalten. Als ihre zu Tode erschrockene Mutter sie eingeholt hatte, rief die Kleine begeistert: «Noch mal! Noch mal!»
Zwei Jahre später war sie alt genug für richtige Reitstunden. Im Stall war sie sofort zuhause, mehr als irgendwo sonst. «Mit Pferden komme ich aus», sagt sie. «Sie verstehen mich, ich verstehe sie.» Überall sonst war sie die Ausländerin, die Fremde. Ihre Mutter ist in Polen geboren, ihr Vater in Italien. Zia sprach kein Schweizerdeutsch, als sie in die Schule kam. «Das war brutal.» Sie wurde ausgelacht, geplagt, regelmässig auf dem Heimweg verprügelt. Die Lehrer schützten die Einheimischen. «Sie hat sich im Turnunterricht verletzt», hiess es, wenn die Mutter nachfragte, warum Zia mit blauen Flecken nachhause gekommen war.
«Sie nannten mich Pferdegesicht – sie konnten ja nicht wissen, dass ich das toll fand!» Sie schüttelt die Erinnerung ab. «Ich hätte schon Grund, verbittert zu sein – aber ich bin es es nicht. Das ist vorbei.»
Ich weiss nur zu gut, was sie meint. Was für sie die Pferde sind, war für mich das Schreiben. Man müsste jedem Aussenseiter eine Garantie ausstellen, denke ich: Deine Zeit kommt noch, halte durch.
Zia überlebte die Primarschule und machte ihre Matura am renommierten Lyzeum Alpinum in Zuoz. «Als Externe – da musst du schon was drauf haben. Damals war ich ein Skaterpunk mit rosa Haaren und zwei zahmen Ratten. Mein Vater hat mir ein eigenes Pferd versprochen, wenn ich zwei Jahre lang gute Noten schreibe – und hey, ich habe meinen Teil des Versprechens gehalten!» Wieder lacht sie. Zia hat ein faszinierendes Gesicht, das sich ständig verändert, so wie der Himmel über New Mexico. Mit jeder Stimmung, mit jedem Gedanken blitzt eine andere Facette auf. Fotos von ihr scheinen ganz verschiedene Frauen zu zeigen. Sie hat so viele Gesichter, wie sie Leben lebt.
Doch erst einmal hat sie Hunger. Es ist kurz vor elf, Zia ist seit fünf Uhr auf den Beinen und hat noch nichts gegessen. Sie hat gut 45 Kilometer auf dem Pferderücken zurückgelegt, Zäune kontrolliert, geflickt, was zu flicken war, den jungen Stier eingefangen und versorgt. Die Pferde werden alle 15 Kilometer oder so ausgetauscht, die Reiter nicht.
Wir betreten das kleine Haus, das sie sich mit Clayton teilt. Sie macht sich ein Spiegelei mit Speck, einen Salat. Sie liebt es, zu kochen, von ihrer Lasagne schwärmt die ganze Ranchbesetzung. «Das habe ich von meinem Vater gelernt.»
Letzten Sommer hat sie in ihrem Pferdetransporter geschlafen. Im hinteren Teil kann sie vier Pferde unterbringen, im vorderen hängen Zaumzeuge und Satteldecken vor einem Hochbett. «Was braucht man mehr? Wobei, es ist schon schön, wenn man seine Kleider aufhängen kann!»
Im Unterschied zu mir ist sie nicht hierher gezogen, weil sie sich in die Landschaft verliebt hat, in den endlosen Himmel, in die blauen Berge oder gar in ein kleines Haus. Sie ist hier, weil die Pferde hier sind. «Seit ich als Kind zum ersten Mal hörte, dass es wilde Pferde gibt, wusste ich, da muss ich hin, die muss ich sehen. » Mit 19 verliess sie die Schweiz, lebte in Irland und Nicaragua, bevor sie nach Amerika zog. Überall hat sie mit Pferden gearbeitet, überall hat sie dazugelernt, in Oregon, Montana und jetzt in New Mexico. Sie bleibt selten lange an einem Ort, geht dorthin, wo sie arbeiten, wo sie lernen kann. «Ich geniesse die Freiheit, Ja sagen zu können. Ich sage gerne Ja.»
Die Zia-Sonne, ein stilisiertes indianisches Design, ziert das Wappen New Mexicos. Der rote Kreis auf gelbem Grund symbolisiert den Kreislauf des Lebens, die geometrisch angeordneten Strahlen die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, die vier Lebensphasen – alles, was möglich ist. Und obwohl Zia ihren Spitznamen schon viel länger hat, als sie hier lebt, stimmt diese Symbolik auch für sie: Ihre ungeheure Energie strahlt in alle Richtungen, doch in der Mitte verankert sie ein unverrückbarer Kreis, ihre Liebe zu den wilden Pferden.
Am letzten Wochenende wurden fast vierhundert Kälber gebrandmarkt, geimpft und kastriert. Dieses Branding ist ein grosses Ereignis, die halbe Gegend kommt zuschauen. Zia strahlt vor Stolz, wenn sie erzählt, wie sie ihr erstes Kalb nicht nur eingefangen, sondern zum Feuer geschleift hat. Das war nicht nur für sie, sondern auch für ihre Stute Roa (die sie Rosie nennt, wenn sie «recht tut») ein grosser Schritt, denn Pferde fürchten das Feuer.
«Eine Zuschauerin aus der Stadt meinte, man müsse wohl brutal und herzlos sein, um diese Arbeit zu machen, aber das ist Blödsinn. Wir lieben unsere Tiere. Jede einzelne Kuh hat einen Namen. Aber ja, sie müssen gebrandmarkt werden, geimpft und kastriert. Das ist nun mal so. Wir sind hier auf einer Ranch und nicht im Streichelzoo.»
Pferdeflüsterer-Romantik ist nicht ihr Ding. «Das Pferd muss zuerst Respekt lernen, dann erst Vertrauen. Wohlgemerkt, Respekt – nicht Angst!» Auch zum Reizthema Wildpferde hat sie eine pragmatische Einstellung, die auf Erfahrung beruht. Ich selber bin Diskussionen zu diesem Thema schon mehrmals ausgewichen, die hoch kochenden Emotionen, die Heftigkeit der Argumente auf beiden Seiten erschrecken mich. «Die, die am wenigsten Ahnung haben, schreien am lautesten», bestätigt Zia. «Die sehen ein Bild von einer Stute mit ihrem Fohlen vor einem Sonnenuntergang, klar wollen sie die retten. Was sie nicht sehen, sind die verkrüppelten Tiere, die Stuten, die ihre Fohlen nicht säugen können, die Pferde, die elend verrecken, weil sie Disteln fressen, die ihre Magenwände aufreissen …»
Das Gesetz zum Schutz der Wildpferde und Maultiere auf staatlichem Grund geht auf die Tierschützerin Velma Johnston zurück, die man «Wild Horse Annie» nannte. Als sie 1959 die erste Fassung vor den amerikanischen Kongress brachte, waren die wilden Pferde beinahe ausgerottet. Doch seit das Gesetz 1971 auf nationaler Ebene verabschiedet wurde, haben sich die Mustangs unkontrolliert und inzestuös vermehrt, mit verheerenden Folgen. Die Rinderzüchter würden die Pferde, die ihren Kühen das karge Gras wegfressen,am liebsten erschiessen. Die Tierschützer finden, das Land müsse ganz den Pferden gehören, Rancher hätten hier nichts zu suchen.
«Was würdest du tun?», frage ich.
«Ich würde die kontrollierte Jagd wieder einführen», sagt Zia. Nicht die Antwort, die ich erwartet hätte, doch sie erklärt sie mir: «Wenn ich ein Pferd wäre, würde ich lieber im gestreckten Galopp sterben, als elendiglich eingepfercht!» Zia ist nicht polemisch, sie sieht beide Seiten. «Keine Frage, das Einpferchen dieser wilden Tiere ist grausam, ein Skandal.» Einmal im Jahr treibt das Bureau of Land Management die Herden mit tieffliegenden Helikoptern zusammen und fängt Tausende von Tieren ein, die dann, eng zusammengepfercht und von ihrer Herde getrennt, oft monatelang ausharren müssen, bevor sie versteigert und meist zum Schlachten nach Mexiko verfrachtet werden. Organisationen, die Wildpferde trainieren, damit sie adoptiert werden können, sind ein «Tropfen auf den heissen Stein». Zia muss es wissen, sie gehört selber einer solchen an. Sie ist eine ihrer beglaubigten Pferdetrainerinnen. Die Organisation bezahlt ihr tausend Dollar pro Pferd. Doch dieses muss sie oft in einem anderen Bundesstaat abholen. Dafür braucht sie einen Pferdetransporter, sie braucht eine Unterkunft für sich und das Pferd, einen Rundkorral, um es zu trainieren, sie braucht Werkzeuge und Zaumzeuge, sie muss sich und das Pferd ernähren.
Ein Wildpferd muss sich einfangen und halftern lassen, es muss alle vier Hufe zum Beschlagen hochheben und widerstandslos einen Pferdetransporter betreten, bevor es adoptiert werden kann. Je nachdem, wie traumatisiert das Tier ist, kann das Wochen oder Monate dauern. Der Preis für ein so weit trainiertes Wildpferd liegt dann bei 125 Dollar. Die Rechnung geht nicht auf.
«Es ist schlicht nicht machbar», sagt Zia. Sie hat deshalb eine Gofundme-Seite aufgeschaltet, doch mit dem Film, der für ihre Sache wirbt, ist sie gar nicht glücklich. Der Off-Text wurde ohne ihre Zustimmung geschrieben. «Diese junge Frau reitet Pferde zu, an die sich nicht mal erfahrene Cowboys wagen würden», heisst es da zum Beispiel. Zia ist empört: «So ein Scheiss! So etwas würde ich doch nie sagen! Ich habe den grössten Respekt vor den Cowboys hier, ich lerne so viel von ihnen.»
Was echt ist, sind ihre Tränen, wenn sie beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn sich ein wildes Pferd zum ersten Mal anfassen lässt. «Man kann es fast hören … es ist wie eine Glasblase, die platzt.»
Wieder erinnert sie mich an die Zia-Sonne, diese starken Strahlen in alle vier Richtungen: Sie ist laut und unverblümt, empfindsam und zart. Unerschrocken und draufgängerisch, sorgfältig und zuverlässig. Unkonventionell und unabhängig, häuslich und fürsorglich. Sie beschreibt sich als Einzelgängerin und fügt sich doch nahtlos in diese zufällige Gemeinschaft auf der Ranch ein.
Ungehindert fegen die Wüstenstürme über die Hochebene. Ein paar Tage später brechen in der Umgebung die ersten Feuer aus. Es ist zu heiss, um draussen zu arbeiten. Während Clayton einen Mittagschlaf macht, arbeitet Zia an den filigranen Perl-Ohrringen, die sie übers Internet verkauft. «Und das mit diesen Händen!», sagt sie und hält sie mir hin: Hände, die hart arbeiten, Hände mit Blasen und Schwielen. Beinahe bin ich erleichtert, als ich im Bad eine Flasche knallroten Nagellack entdecke. Hier sind sie wieder, diese Gegensätze.
Wir unterhalten uns auf Englisch und auf Schweizerdeutsch, unser Gespräch sprengt den Rahmen eines Interviews. Ich habe einen Sohn in Zias Alter und ertappe mich bei mütterlichen Übergriffen. «Hast du denn eine Krankenversicherung?», frage ich und entschuldige mich sofort dafür. Sie winkt ab: «Das darfst du schon. Ich vermisse doch meine eigene Mutter!»
Und die Liebe? «Ich bin nicht dagegen», antwortet sie kryptisch. «Aber die Pferde kommen zuerst, das muss ein Mann akzeptieren können. Es muss einfach stimmen. Und es muss halten. Ich will das, was meine Eltern haben.»
Dann springt sie auf und macht mir vor, wie sie neulich eine entrissene Kuh aus dem Fluss retten musste. Dabei fiel sie vom Pferd und blieb mit dem Stiefel an einer Wurzel hängen. «Als ich mich endlich freigekämpft hatte, konnte ich im Fluss stehen! Ums Haar wär ich ertrunken, in einem Meter Wasser!» Empört stemmt sie die Hände in die Hüften und stapft durch die Küche, als wäre es der schlammige Cimarron River. Clayton wacht aus seinem Mittagsschlaf auf und kommt in die Küche. Nachsichtig schüttelt er den Kopf:
«In einem Meter Wasser? Ihr Ausländer habt schon lustige Ausdrücke.»
«Siehst du?» Zia zwinkert mir zu. «Ich bin immer die Ausländerin, die Fremde. Aber heute ist das etwas Gutes. Mit ‹I’m from Switzerland› komme ich überall durch.» Ich weiss, was sie meint: Es ist eine Erleichterung, sich fremd zu fühlen, weil man fremd ist. «Was früher wie ein Fluch über mir lag, ist heute mein grösstes Glück!»
Clayton setzt sich zu uns. Ich frage ihn, wie er Zia beschreiben würde. «Zia ist grossartig», knurrt er. Und mehr werde ich aus diesem wortkargen Cowboy wohl nicht herauskriegen, denke ich. Doch ich täusche mich. «Ich mache diese Arbeit nun schon so lange – mein Leben lang –, dass ich nicht mehr über sie nachdenke. Doch Zia legt eine solche Begeisterungsfähigkeit und Wissbegierde an den Tag, dass ich alles mit neuen Augen sehe. Sie hat mir erst wieder bewusst gemacht, wie wichtig, wie toll das ist. Zia hat mir die Begeisterung für meine Arbeit zurückgegeben.»
Einen Moment lang ist es still. Ich kann beinahe hören, wie die Glasblase platzt.
2015 zog die Schweizer Autorin und Schriftstellerin Milena Moser (55) nach Santa Fe, New Mexico – also quasi in die Nachbarschaft von Letizia «Zia» Reato. «Wir scheinen uns beide in dieser fremden Umgebung wie zuhause zu fühlen, so unterschiedlich unsere Leben verlaufen sind.» Soeben ist ihr neuer Roman «Land der Söhne» erschienen (Verlag Nagel & Kimche). Seit vielen Jahren leitet Milena Moser Workshops für kreatives Schreiben. Sie war zweimal verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
Schweizer Macherinnen
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