Wie ist es eigentlich, allein über den Atlantik zu rudern?
- Text: Manuela Enggist
- Bild: Atlantic Campaigns
75 Tage allein auf dem offenen Meer: Gabi Schenkel (47) aus Olten brachte sich das Rudern bei – und erlebte auf dem Atlantik so einiges Unvorhergesehenes.
Ich habe mir ein Jahr lang Zeit genommen, um mich auf die Atlantic Challenge vorzubereiten. Von den Kanarischen Inseln bis in die Karibik würde ich rund 4500 bis 5000 Kilometer auf dem offenen Meer zurücklegen. Allein. Nur mit der Kraft meines Körpers.
Ich bin eigentlich Ultramarathonläuferin, renne also Strecken zwischen fünfzig und hundert Kilometern, sass zuvor noch nie in einem Ruderboot. Mir kann es sogar passieren, dass mir auf der Fährüberfahrt von Meilen nach Horgen schlecht wird. Aber gegen Seekrankheit gibt es Medikamente. Und gegen Unerfahrenheit gibt es Training.
Mein Bauchgefühl sagte mir einfach, dass ich diese Challenge machen würde. Ich sage bewusst nicht «machen muss». Das Wort «müssen» ist bei mir nicht im Sprachgebrauch, entsprechend musste ich auch nicht den Atlantik überqueren, sondern ich habe mich dafür entschieden.
«Was mir am meisten zusetzte, war, dass ich niemanden berühren konnte»
Ich habe gelernt zu rudern, Seemannsknoten zu knöpfen, zu navigieren und zu funken. Ich habe mich so gut es ging auf alle möglichen Gefahren vorbereitet, habe gegoogelt, was ich bei einem Haiangriff machen muss.
Natürlich ist in den 75 Tagen, die ich allein auf dem offenen Meer verbrachte, viel Unvorhergesehenes passiert. Einmal landete ich sogar im Wasser. Eine grosse Welle brach direkt über mir und kehrte mein 625 Kilogramm schweres Ruderboot um. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, zitterte am ganzen Körper, kletterte aber sofort wieder aufs Boot. Es ist zum Glück so gebaut, dass es sich von selbst wieder aufrichtet.
Nach einem Monat gingen meine beiden Satellitentelefone kaputt. Ich konnte mit niemandem mehr sprechen. Also sang ich den ganzen Tag Lieder oder schrie Wind und Wellen an, damit meine Stimmbänder nicht einrosteten.
Was mir aber am meisten zusetzte, war die Tatsache, dass ich niemanden berühren konnte. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass ein Mensch pro Tag vier Umarmungen braucht, um zu überleben. Das ging mir immer wieder durch den Kopf. Ich massierte mir jeden Tag zwanzig Minuten lang die Unterarme. Es tat mir gut, war aber nicht dasselbe.
«In diesen einsamen Wochen auf dem Meer habe ich damit angefangen, meinen Körper und Geist zu räumen»
Ich realisierte, dass ich einsam war. Nicht erst, seit ich auf dem Atlantik war, sondern schon seit Langem. Ich hatte diese Einsamkeit aber nie wahrgenommen, weil wir in unserer Gesellschaft wohl allgemein gut darin sind, diese Tatsache zu ignorieren. Wir lenken uns ab, schauen stundenlang Serien, befassen uns nur mit dem Aussen.
Darüber schrieb ich auch in meinem Buch «Solo auf See», worauf ich sehr viele Reaktionen bekam. Die Menschen erwarteten, dass so ein Abenteuer wohl nur Glücksmomente bereithält, dabei habe ich auf offenem Meer auch viel Trauerarbeit geleistet. Ich habe realisiert, dass ich mich in der vollen S2 auf dem Weg nach Zürich genauso einsam gefühlt hatte wie auf dem Atlantik.
In diesen einsamen Wochen auf dem offenen Meer habe ich damit angefangen, meinen Körper und Geist zu räumen. Es ist wie mit einem Kleiderschrank. Wenn er voll ist, hat es keinen Platz mehr für neue Pullover. Ich habe Raum geschaffen für positivere Emotionen und Gedanken. Das versuche ich heute als Coach an Menschen weiterzugeben.
Die ersten Stunden und Wochen, die ich wieder an Land verbrachte, habe ich verschwommen in Erinnerung. Als ich in die Schweiz zurückkehrte, kam es nach zehn Tagen zum ersten Lockdown. Das erneute Alleinsein genoss ich. Ich hatte Bücher, einen vollen Kühlschrank, eine Toilette, die Stille und ein Bett, das nicht wackelte.
>Ich realisierte, dass ich einsam war<…>dass ich mich in der vollen S2 auf dem Weg nach Zürich genauso einsam gefühlt hatte wie auf dem Atlantik<: Wir sind alle einsam, in unserem innersten. Jeder Mensch empfindet anders, hat andere Gefühle, andere Wünsche, andere Begierden. Das alles jemandem mitzuteilen ist unmöglich. Wir kommen einander näher in der Liebe, aber selbst da bleibt ein Rest vom “ich” alleine. Nur leben wir darüber hinweg, wir beschäftigen uns nicht damit. Ich schreibe zur Zeit ein Buch, mein zehntes, über das Thema: “Der Unterschied”, (zwischen Mann und Frau, Frau und Mann). Alleine da kommt man an Grenzen. Eine Frau wird nie einen Mann verstehen, ein Mann nie die Frau. Und schlussendlich: Wir sind alle einsam, leben einsam und sterben einsam, selbst, wenn uns jemand beim Sterben die Hand hält. Deshalb aber nicht traurig sein, sich des Lebens freuen, auf dem Atlantik über den blauen Himmel freuen, zu Hause über denselben blauen Himmel freuen, und danken, dass wir leben und so vieles genießen können.
Bewundere solche Personen und ihren Mut sehr.
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