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Kommentar: Warum ich einen Schlachthof besuchen will

Kommentar: Warum ich einen Schlachthof besuchen will

Unsere Tierliebe clasht mit unseren Ernährungsvorlieben, schreibt unsere Autorin Stephanie Hess. Wie wir den moralischen Konflikt entschärfen können.

Warum schmerzt es uns eigentlich, wenn ein Vögelchen aus dem Nest fällt, nicht aber, wenn Kälbchen umgehend nach der Geburt von ihren Müttern getrennt und kurz danach getötet werden, um, zerstückelt und in Darm gepresst, auf unserem Grill zu landen? Wenn du in mir nun eine verbiesterte Tierrechtlerin vermutest, so habe ich dafür volles Verständnis: Das wäre bis vor einiger Zeit auch mein Gedanke bei einem Textanfang wie diesem gewesen.

Kollektive Verdrängung

Dann sprach ich für einen anderen Ar­tikel mit einem auf Tierethik spezialisierten Philosophen. Was er erzählte, ist nicht unbedingt neu, ging mir aber nicht mehr aus dem Kopf. Er sagte, dass wir ständig kollektiv und individuell verdrängten, dass für Steak, Wurst und Pouletbrust tatsächlich Tiere getötet wurden. Wir täten dies, weil uns das Tierleid, das durch die industrielle Haltung entsteht, genauso wie das Töten in einen moralischen Konflikt manövriere: Unsere Tierliebe clasht mit unseren Ernährungsvorlieben.

Das erklärt eben auch, warum wir Mitleid empfinden für ein Vögelchen, das ohne unser Zutun leidet, den Schmerz des Kälbchens hingegen relativieren. Etwa indem wir es als Nutztier bezeichnen und ihm damit den Anspruch auf ein Leben ohne Leid absprechen. Obwohl uns ein Kalb als Säugetier im Grunde viel näher stehen könnte als ein Vogel – nur essen wir Letzteren halt nicht.

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«Unsere Tierliebe clasht mit unseren Ernährungsvorlieben»

Realität statt Alpenromantik

Ich realisierte nach dem Gespräch, dass ich als Nachhaltigkeitsthemen verbundene Journalistin weder je einen industriellen Mastbetrieb noch einen Schlachthof von innen gesehen habe. Wenn man bedenkt, dass hierzulande pro Tag 200’000 Tiere geschlachtet werden, ist es doch bezeichnend, wie wenig wir alle davon mitbekommen (wollen) – einmal abgesehen von den Flugblättern militanter Tierschutzor­ganisationen, die sich jedoch in ihrer reisserischen Aufmachung leicht als übertrieben abstempeln lassen. Da wir seit Jahrzehnten keine Bilder mehr haben respektive keine mehr haben wollen vom Leben der Tiere, die wir später essen, springt behände die Werbung in die Bresche.

Sie erzählt von Kühen in weiträumigen Laufställen. Von Landwirt:innen, die alle Tiere mit Namen kennen. Von Hühnern, die auf grünen Wiesen gackern. Und dann bestätigen Agrarlobby wie Tierschützer:innen sogar noch, dass es sich beim Schweizer Tierschutzgesetz um eines der strengsten weltweit handelt. Nur betonen Letztere eben auch, dass die Realität herzlich wenig mit romantischen Werbebildern gemein hat. Die Hälfte aller Schweine in der Schweiz leben ohne Auslauf zu zehnt auf der Grösse eines Parkplatzes. Die aller ­ meisten Masthühner sehen in ihrem tristen Leben auf der Fläche eines A4 ­ Blattes nie den Himmel.

Und statt in Alpenromantik verbringen etwa fünfzig Prozent aller Mastrinder ihr Leben ohne Auslauf ins Freie. Solang wir Fleisch essen, lässt sich das Dilemma, in das uns das industrielle Halten und Töten von Tieren bringt, nie ganz auflösen. Aber vielleicht können wir den moralischen Konflikt entschärfen: indem wir die Fleischerzeugung ein Stück näher an unsere Wunschvorstellung rücken. Etwa mit strengeren Anforderungen – die mindestens den Bio-Suisse-Richtlinien entsprechen – an eine tierfreundliche Unterbringung, den Zugang ins Freie, die Schlachtung und die Gruppengrösse je Stall. Also genau das, was die Massentierhaltungsinitiative verlangt, über die wir am 25. September abstimmen.

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HUM

let thy food be thy medicine and thy medicine be thy food: go Vegan!

Nicola

Ich wäre da gern dabei, beim Besuch im Schlachthof.

Stephanie Hess

Hallo Nicola, ich melde mich bei dir, sobald ich einen Besuch organisieren konnte. Liebe Grüsse

Britt

Finde ich gut…alle wo Fleisch essen sollten das tun, die meisten zu feige. Tiere schreien und haben Angst .. diese Gesichter und kein Ausweg für die armen Geschöpfe .. die meisten essen kein Fleisch mehr!!

Nicola

Es ist für mich immer wieder befremdend, wenn Tierschützer (auch gerne Vegetarier, Veganer oder Feministinnen) als militant bezeichnet werden. Personen, die andere als militant bezeichnen, fehlen meist die besseren Argumente. Sie fühlen sich insgeheim in ihrem Weltbild angegriffen und spüren, das sie dieses nun eigentlich hinterfragen müssten.

Stephanie Hess

Hallo Nicola, danke fürs Lesen! Ich stimme dir zu. Denke aber auch, dass ein zu grosses Mass an Militanz dazu führen kann, dass eine Debatte nur noch laut und aggressiv geführt wird – was auf beiden Seiten Frust auslöst. Ich denke, wenn man versucht, seine Position zu behalten und trotzdem zu verstehen, warum das Gegenüber anders denkt und handelt, kann das mehr in Bewegung bringen.

Bianca

Toll geschrieben, wichtiges Thema. Danke!

Anja Fasching

Ich kann nur soviel sagen, ich bin auch Landwirtin, ich kenne meine Tiere auch alle beim Namen, da ich eine kleine Landwirtschaft habe. Ich mache das alles mit sehr viel liebe und sehr viel Engagement. Ich mag meine Rinder und meine Rinder mögen mich. Aber es wird alles schwieriger den als kleiner Bauer, der jedes Rind beim Namen nehnen kann wirst du auch gerne ausgelacht…., aber das macht mir nicht’s den was man gerne macht macht man gut.

Stephanie Hess

Liebe Anja
Danke fürs Lesen und deine Antwort. Ich finde es toll, dass es Landwirt:innen wie dich gibt. Ich kann mir vorstellen, dass diese Art der Landwirtschaft mit grossem wirtschaftlichem Druck und sehr viel Arbeit einhergeht. Umso bewundernswerter finde ich deinen Weg und dass du dir selbst treu bleibst, Chapeau!

Kabel

Auslachen? Wie absurd! Es freut mich zu hören,das die Tiere und Sie im Einklang sind.
In meiner Freizeit setze ich mich ein für Tiere wo es nur geht. Auch für alle Wildtiere.
Jedoch ein Tier abgeben könnte ich nicht. Man hat mir auf den Lebensweg viel zu viel Gefühl mitgegeben.
Mir laufen die Tränen wenn ich mitkriege wie Sie die Kälber denn Mutterkühe entreißen und in Schlachtwagen bringen.
Die Mütter die Schreien (Weinen) und keine Ahnung haben was da Vorsicht geht.
Seit ich das gesehen habe es ich kein Kalbfleisch mehr und generell sehr selten Fleisch.
Man sollte die Menschen in der Werbung vermehrt mit der Wahrheit konfrontieren !
Guter Artikel!

Reto

Liebe Stephanie
Gerne lade ich dich auf eine Führung ein. Ich selbst bin Landwirt & könnte dir auch eine Führung durch einen grossen Schlachthof organisieren.

Stephanie Hess

Hallo Reto! Danke fürs Lesen und die Einladung, das ist sehr nett. Magst du mit mir über [email protected] Kontakt aufnehmen?

Linda Walter

Lieber Reto,

Ich bin auf der Suche einer Führung durch einen Schlachthof und bin auf deinen Kommentar gestossen. Da du dieses Angebot hier so öffentlich präsentiert, würde ich gerne mit dir in Kontakt kommen.

Magst du mich direkt anschreiben?

Lieber Gruss