Zeitgeist
Disability Pride Month: «Für meine Kinder bin ich einfach ihr Vater»
- Text: Sonya Jamil
- Bild: Dominik Meier
Islam Alijaj (36) fragte sich in seiner Jugend oft, welche Art von Vater er sein würde. Hier erzählt der Inklusionsaktivist aus seinem Alltag mit Cerebralparese und zwei Kindern.
«Man weiss nie, wo die Liebe hinfällt: Ich habe meine Frau vor zwölf Jahren auf einer Hochzeit im Kosovo kennengelernt. Zuvor hatte ich einige Liebesbeziehungen, aber sie hat mich auf Anhieb gefesselt und gab mir ein Gefühl von Sicherheit und Akzeptanz. Wir merkten schnell, dass unsere Werte und Ziele im Leben übereinstimmen. Dass meine Frau keine Behinderung hat, ist reiner Zufall. Sie meinte damals bei meinem Hochzeitsantrag zu mir: ‹Islam, ich sehe deine Persönlichkeit und nicht deine Behinderung.› Das rechne ich ihr hoch an.
«Die Gesellschaft gab mir das Gefühl, aufgrund meiner Behinderung ein exotisches und asexuelles Wesen zu sein»
Ihre Einstellung schenkte mir sehr viel Selbstbewusstsein. Die Gesellschaft hatte mir bis dahin das Gefühl gegeben, aufgrund meiner Behinderung ein exotisches und asexuelles Wesen zu sein, das Liebe und Sex nicht zu interessieren hat. Doch Sexualität hatte schon immer einen grossen Stellenwert in meinem Leben. Ich machte erst Mitte 20 meine ersten Erfahrungen und sehe mich deshalb eher als Spätzünder. Früher wollte ich mich nicht einmal nackt im Spiegel betrachten, da ich meiner Meinung nach nicht dem Idealbild eines muskulösen, starken Mannes entsprach. Heute, mit 36, merke ich, dass es viel mehr auf die inneren Werte ankommt und Selbstbewusstsein attraktiver ist als ein Waschbrettbauch.
2013 haben meine Frau und ich geheiratet. Ein Jahr später kam unser Sohn und 2017 unsere Tochter gesund auf die Welt. Den Kinderwunsch hielt ich mir immer offen; hätte ich eine vererbbare Krankheit gehabt, wären Kinder für mich nicht infrage gekommen. Durch meine Cerebralparese, eine bleibende Muskelspastik hervorgerufen durch Hirnschädigungen, sitze ich im Rollstuhl und habe eine Sprechbehinderung.
Aus diesem Grund habe ich mich als Jugendlicher geschämt, vor Leuten zu sprechen. Heute bin ich im Gemeinderat der Stadt Zürich und posiere auf Plakaten in der ganzen Stadt. Mit meinem Verein «Tatkraft» will ich mich zudem für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz starkmachen, wie zum Beispiel bei der Barrierefreiheit von Sportanlagen oder Schulhäusern. Diese Hürden bekomme ich zu spüren, wenn ich meinen Sohn mehrmals die Woche ins Fussballtraining oder in die Schule begleite.
«Meine Kinder würden nie mit dem Finger auf eine eingeschränkte Person zeigen oder diese gar auslachen»
Ich habe mich in meiner Jugend oft gefragt, welche Art von Vater ich sein würde – in meinen Augen war das typischerweise jemand, der immer präsent ist und den Nachwuchs überall hinfährt. Das machte mir zunächst Angst. Mittlerweile weiss ich, dass es nicht den typischen Vater gibt.
Meine Kinder sollen ihr Potenzial entfalten und ihren eigenen Weg gehen. Ich möchte sie dabei unterstützen und aktiv ein Teil ihres Lebens sein. Sie sollen durch mich verstehen, zu was Menschen mit Behinderungen fähig sind. Meine Kinder würden nie mit dem Finger auf eine eingeschränkte Person zeigen oder diese gar auslachen. Und mein Sohn belehrt schon seine Freund:innen, dass man mit dem Ausdruck ‹behindert› niemanden beleidigen sollte.
«Wenn ich mit den Kindern Zeit verbringe, vergesse ich meine Behinderung»
Mein Nachwuchs schenkt mir viel Kraft und Energie. Wenn ich mit ihnen Zeit verbringe, vergesse ich meine Behinderung. Für die Kleinen bin ich einfach der Vater und nicht jemand, der nur im Rollstuhl sitzt. Das tut mir gut. Zu Beginn kümmerte sich vor allem meine Frau um unsere Babys. Als die Kleinen anfingen zu krabbeln, brachte ich ihnen bei, wie sie mir am einfachsten auf den Schoss klettern können. Meine Frau will unseren Kindern immer möglichst viel Arbeit abnehmen, ich hingegen erziehe sie zu sehr viel Eigenverantwortung und Selbstständigkeit.
Mein Sohn soll zum Beispiel selbst daran denken, was er zum Fussballtraining oder auf Klassenreise mitnimmt. Ich helfe ihm dafür immer bei seinen Hausaufgaben oder begleite ihn in die Fussball- oder Taekwondo-Stunde – er steht dann von hinten auf dem Motor meines Elektrorollstuhls und ab geht die Fahrt. Da freut er sich immer. Morgens bringe ich meine Tochter in den Kindergarten und gehe dann ins Büro. Wenn sie die Arme um mich schlingt, merke ich, wie sehr sie mich liebt. Ich weiss noch, wie sie als Zweijährige ungeduldig meinte ‹Papa, gib her› und mir half, meine Socken anzuziehen.
Es gibt immer einen Weg, habe ich gemerkt. Meine Eltern und drei Brüder unterstützen uns, wo sie können und gehen mit den Kindern zum Beispiel schwimmen. Leider gibt es kaum Beratungsangebote für Eltern mit einer Behinderung – dafür will sich der Verein «Tatkraft» in Zukunft vermehrt einsetzen. Mein Tipp für körperlich eingeschränkte Mütter und Väter: Proaktivität. Beispielsweise schrieb ich die Lehrpersonen meiner Kinder direkt an und klärte sie über meine Sprechbehinderung und den Rollstuhl auf. So konnten sie sich bei Elternabenden entsprechend darauf vorbereiten. Es soll ja primär um die Kinder gehen und nicht um mich.
Tatsächlich braucht man mit einer Behinderung ein sehr dickes Fell. Ich bin ganz ehrlich: Es ist scheisse, behindert zu sein. Es ist ein stetiger, oftmals ermüdender Prozess, die persönlichen Einschränkungen anzuerkennen und darauf aufzubauen. Das forderte sehr viel Selbstreflexion von meiner Seite. Ich kam schliesslich zum Schluss, dass es eine Vergeudung ist, ein Leben in Selbsthass zu führen. Ich muss meine Behinderung nicht lieben, aber sie darf nicht mein Leben bestimmen. Und ich kann etwas Gutes daraus machen, indem ich mich für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen starkmache.
Meine zwei Kinder schenken mir in meinem turbulenten Berufsalltag den nötigen Ausgleich und Frieden. Wir haben ein sehr enges Verhältnis zueinander – ich hoffe, das ändert sich nicht, wenn sie älter werden. Ich will ihnen trotz oder vielmehr mit meiner Behinderung ein Vorbild sein und sie stolz machen.»
Islam Alijaj (36) ist Inklusionsaktivist und Gemeinderat der SP Zürich. Dieser Artikel entstand im Rahmen des Disability Pride Months, der auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufmerksam macht.