Leben
Zalando: Eine Reise auf der Erfolgsspur des Internet-Riesen
- Text: Denise Jeitziner; Illustration: Mario Wagner
Vor fünf Jahren verkaufte man ein paar Flipflops. Heute setzt Zalando rund zwei Milliarden Franken um und ist bekannt wie ein orange-weisser Hund. Eine Reise auf der Erfolgsspur bis ins Hauptquartier in Berlin.
Das orange-weisse Paket ist riesig. So gross, dass es am Postschalter gerade noch durch das Schiebefenster passt. So gross, dass der Pöstler es sich nicht verkneifen kann: sein Da-hat-wohl-wieder-eine-zu-viel-Zeit-auf-Zalando-verbracht-Grinsen. Ist eben schnell passiert, so ein Riesenpaket: www.zalando.ch. Stichwort eingeben, zum Beispiel «Gummistiefel». Enter. 289 Artikel gefunden, für Damen (194), Herren (17), Kinder (78). Anzahl Farben: 16. Die Schuhspitzen zeigen immer nach links. Angeblich wird dann eher draufgeklickt. Die türkisblauen sind hübsch. In den Warenkorb. Da, die roten mit der weissen Sohle! 25 Kundenmeinungen, alle positiv, fünf von fünf Sternen. In den Warenkorb. Kostet ja nichts, zurückschicken auch nicht. Noch ein bisschenstöbern bei den Blusen und Portemonnaies.
Rund 150 000 Produkte gibt es von etwa 1500 Marken. Die Chancen stehen gut, dass der Pöstler sein Zalando-Grinsen gleich wieder anknipsen kann. Die anderen Frauen in der Filiale sind bestimmt nicht alle hier, um Briefmarken oder ein Millionenlos zu kaufen. Dafür stapeln sich auf den Regalen zu viele Pakete mit dem bekannten Logo. Vor zwei Jahren lag da noch kein einziges. Die E-Commerce-Beraterfirma Carpathia hat vergangenes Jahr nachgezählt und ist in der Schweiz in einem Monat auf mehr als 200 000 Zalando-Pakete gekommen. Das macht 10 000 pro Arbeitstag – und viel Arbeit für die Post. Um 200 Vollzeitstellen wurde das Team von Postlogistics allein in den letzten drei Jahren aufgestockt, der wunderbaren Päcklivermehrung sei Dank. In Zukunft kann man seine Zalando-Bestellungen auch an einem der neuen Paketautomaten entgegennehmen, die ab 2014 schweizweit aufgestellt werden, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und: Seine Retourenpakete kann man neuerdings vom Pöstler daheim abholen lassen.
Ein Gespräch auf Umwegen
Ein paar Wochen später in Berlin. Der Mann im Pförtnerhäuschen vor der Zalando-Zentrale sieht nicht so aus, als hätte er ein Zalando-Grinsen im Repertoire. «Wollen Sie zum Vorstellungsgespräch?», fragt er und klingt nach «Schon wieder eine». – «Nein, ich habe einen Interviewtermin mit David Schneider.» – «Aha? M-h», grummelt der Pförtner. «Warten Sie hier. Und ziehen Sie diesen Badge an. Und tragen Sie den die ganze Zeit!» Der imposante Zalando-Bau hinter dem dicken Tor könnte locker als Festung durchgehen: rotbraune Backsteinfassade, viele Fenster, alle vergittert. Bei Zalando mag viel geschrien werden, aber wenn es um das Unternehmen geht, will man sich nicht allzu sehr in die Kartons schauen lassen. Lange Zeit hielt es sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück, Zahlen wurden entweder gar nicht oder schwammig kommentiert.
Ein Gespräch mit den drei Geschäftsführern? Unmöglich, keine Zeit. Mit den zwei Gründern? Auch nicht. Und bloss mit einem von ihnen, mit David Schneider zum Beispiel? Nach langer Suche findet sich in dessen Agenda ein Zeitfenster. Eine Stunde. Dafür ist der Besuch beim Schweizer Logistikpartner Fiege in Bülach tabu. Nicht erwünscht, lässt die Medienstelle verlauten. In Bülach landen alle Schweizer Zalando-Retourenpakete. Jedes einzelne Kleidungsstück muss von Hand kontrolliert, notfalls gereinigt, geflickt oder gar entsorgt werden. Manche Kunden verstehen das 30-Tage-Rückgaberecht als 30-Tage-Tragrecht. Kurz zum Geschäftsessen mit der neuen Bluse oder mit den Highheels an die Party. Danach zurück ins Paket, Retourenkleber drauf, und ab die Post. Der kostenlose Versand ist einer der Hauptgründe, weshalb Zalando die Schweizer Onlineshopper jeden Alters sofort auf seiner Seite hatte.
Das gab es hierzulande bis dahin noch nicht. Der kostenlose Versand ist aber auch einer der Hauptgründe, weshalb viele am Geschäftsmodell Zalando zweifeln. Wie kann denn das rentieren? Wie viel wird tatsächlich behalten, wie viel geht wieder zurück? Die Spekulationen über die Rücksendequoten überschlugen sich, von bis zu achtzig Prozent war die Rede. Zalando selber wollte sich lange Zeit nicht dazu äussern, was die Gerüchteküche noch mehr anheizte. «Unsere Rücksendequote liegt insgesamt bei rund fünfzig Prozent. Innerhalb der einzelnen Kategorien und Länder variiert das natürlich noch einmal», gibt die Medienstelle inzwischen preis. Thomas Lang, E-Commerce-Experte von Carpathia, hält die Zahl für realistisch und versichert: «Damit lässt sich im Modebereich durchaus rentabel geschäften.»
Die Quote darf jedoch nicht aus dem Ruder laufen. Deshalb setzt Zalando alles daran, Retouren so gut wie möglich zu vermeiden. «Schrei vor Glück – oder schicks zurück» hiess der Slogan zu Beginn. Der zweite Teilsatz wurde bald wieder gestrichen. Zudem werden die Produkte ausjedem Winkel fotografiert, Kunden können Kommentare schreiben («Stoff ist durchsichtig und klebt am Po»), und in Zukunft sollen virtuelle Umkleidekabinen getestet werden. Je genauer die Vorstellung von einem Kleidungsstück, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass es passt und behalten wird. Am Eingang zur Zalando-Zentrale in Prenzlauer Berg nuschelt der Pförtner ins Telefon. Kurz darauf passiert die Kollegin von der Medienstelle das Drehkreuz: «Willkommen in Berlin.» – «Badge umhängen!», ruft der Pförtner hinterher. Drinnen erinnert nichts mehr an eine Festung. Die hohen, loftartigen Räume sind weiss gestrichen, die Fenster bodentief. Die Gebäudetrakte sind nach Kontinenten benannt, die Sitzungszimmer nach europäischen Hauptstädten.
Der grösste Kleiderschrank Europas
Junge Leute aus über vierzig Nationen kommen hier zusammen. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, die Geschäftsführer sind kaum älter: David Schneider und Rubin Ritter sind 31, Robert Gentz ist 29. Unten im Hof kann man sich seinen Lieblingskaffee brühen lassen oder Pingpong spielen. Die Berufserfahrung ist nebensächlich, viel wichtiger ist das Potenzial, sich zu entwickeln, und die Freude daran, gemeinsam Grosses zu schaffen. In 14 europäischen Ländern ist das Unternehmen inzwischen aktiv. In Berlin läuft alles zusammen. Hier sitzen Spanier neben Polen und Briten neben Belgiern. Wenn nicht die Sprache die Mitarbeiter outet, tun es die Landesfähnlein auf den Bürotischen. Zalando ist zentral organisiert und dennoch auf die Bedürfnisse der jeweiligen Länder ausgerichtet.
Schon im Kundendienst zeigen sich die Unterschiede: Für die Schweizer Mitarbeiter geht es morgens früher los, weil Schweizer offenbar gern zeitig bestellen. Die Kollegen aus Deutschland haben telefonisch weniger zu tun: Deutsche Kunden informieren sich lieber schriftlich, während die Kunden aus Italien gern direkt zum Hörer greifen. Rund tausend Leute arbeiten in den sieben Berliner Zalando-Büros. Texter, Marketingfachleute, allein die IT-Abteilung beschäftigt rund 300 Angestellte, die dafür sorgen, dass die Website den Ansturm von über hundert Millionen Kunden pro Monat meistert. In Erfurt wurde diesen Frühling ein riesiges Logistikzentrum gebaut, der «grösste Kleiderschrank Europas», fast 17 Fussballfelder gross. Angefangen hat alles vor fünf Jahren in einer Studentenbude. David Schneider und Robert Gentz, beide Mitte zwanzig, gründen einen Onlineshop für Flipflops – mit improvisierter Website, einem Schwarzweissdrucker und David Schneiders Handy als Kundenhotline.
Nach zwei Wochen stellen sie einen Praktikanten ein, der abends die Pakete zur Post bringt. Später bestellen sie dafür ein Taxi. Im Oktober 2008 sind sie bereit für den nächsten Schritt, der viel grösser wird als erwartet: Zalando. Mit dem Industrielift geht es nach oben ins Sitzungszimmer Madrid. «Hallo, willkommen», David Schneider steht auf und lächelt. Gross, blaue Augen, dunkelblondes Haar, einmal Gel und fertig, Dreitagebart, hinaufgekrempelte Hemdsärmel, Jeans, blaue Schnürschuhe von Zalando. Er lächelt beim Sprechen und ist so höflich, dass er die Colaflasche in seinen Händen erst dann öffnet, als nach vierzig Minuten ein Kollege das Wort ergreift. Das ist also der Chef des Berliner Onlinehändlers, der vier Jahre nach dem Start bereits die Umsatzmilliarde knackte, ja mit 1.4 Milliarden Franken sogar weit übertraf. (In diesem Jahr könnte gar die 2-Milliarden-Marke fallen.)
«Robert Gentz und ich sind sicherlich beide keine Fashionexperten, aber wir fanden Mode ein spannendes Produkt mit viel Potenzial», sagt David Schneider. Das hat sich eindrücklich bestätigt. Bloss bei einer Sache lagen die beiden völlig falsch. «Als potenzielle Kundin stellten wir uns eine Online-affine, 20-jährige Frau vor. Die zweite Anruferin war 73 Jahre alt und wollte wissen, ob sie ihre Bestellung tatsächlich kostenlos zurückschicken kann.» In der Schweiz begann alles 2011 mit einem 37-sekündigen Banküberfall, dem ersten Zalando-Spot im Schweizer Fernsehen. «Zalando – Schrei vor Glück!» – auch wenn du im Cocktailkleid gefesselt auf einem Bürostuhl sitzt. Die Werbespots sind ein Markenzeichen. Schreiende Menschen kommen immer darin vor, plötzlich auftauchende Pöstler meistens ebenso. Ausser in Schweden, Norwegen und Finnland. Dort gibt es keine Pöstler, die Pakete nachhause liefern. Nun schreien die Frauen halt, wenn sie das Paket daheim öffnen.
Zalando: Ein Verlustgeschäft?
Das Marketingbudget ist enorm. Das Marktforschungsunternehmen Media Focus hat im ersten Zalando-Jahr Werbung in zweistelliger Millionenhöhe gezählt. Allein im April 2012 soll Zalando mehr als drei Millionen Franken für Werbung ausgegeben haben. Im Kino, im Fernsehen, im Web – Zalando ist überall, 95 von 100 Leuten wissen inzwischen, was es mit den orange-weissen Paketen auf sich hat. Dabei hat die Firma gerade erst das Kindergartenalter erreicht. Kein anderes europäisches Start-up hat das in so kurzer Zeit geschafft. Es hat aber auch noch kaum jemand so viel Geld investiert – für die Infrastruktur, das Marketing, die Expansion. Das schlägt sich auf dem Konto nieder. Trotz Milliardenumsatz schreibt Zalando Verluste: Rund 114 Millionen Franken waren es allein im vergangenen Jahr. «Verzockt sich Zalando?», fragen sich die Medien; oder: «Kann das gutgehen?»
E-Commerce-Experte Thomas Lang scheint es leid zu sein, immer zu hören, Zalando sei ein Verlustgeschäft. In Deutschland, Österreich und der Schweiz schreibe Zalando eine schwarze Null. «Wenn man berücksichtigt, dass Zalando im vergangenen Jahr sieben neue Länder erobert hat, dann mutet der Verlust im Vergleich zum Umsatz geradezu läppisch an», sagt er. Auch bei Zalando bleibt man entspannt. «Unsere Verluste sind gut kalkulierbar, weil wir wissen, dass die Kunden in der Regel immer wieder bei uns bestellen. Das ist es, was unser Geschäftsmodell langfristig interessant macht», sagt David Schneider. Und man geht weniger Risiken ein, als es den Anschein macht. Neuerungen wie die Luxuskollektionen werden immer erst im kleinen Rahmen getestet. Bestätigt sich eine Nachfrage, fährt Zalando im grossen Rahmen auf.
Während andere Start-ups angesichts des jahrelangen Verlustgeschäfts längst hätten aufgeben müssen, drängen die Investoren bei Zalando nach wie vor ins Boot. Jüngst eingestiegen ist Anders Holch Povlsen, Modeunternehmer und drittreichster Bürger Dänemarks mit geschätztem Vermögen von 2.3 Milliarden Franken. Er übernahm zehn Prozent am Unternehmen und soll dafür einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag überwiesen haben. Insgesamt soll Zalando mittlerweile rund 3.5 Milliarden Franken wert sein. Doch wie lange noch? Insbesondere im nördlichen Nachbarland schreiben Kritiker von der «grössten Internetwette Deutschlands». Ein Grund für das Misstrauen: Als Investoren seit dem Anfang dabei sind die berühmt-berüchtigten Samwer-Brüder aus Köln, auch bekannt als Copycats.
Oliver Samwer hat wie Schneider und Gentz an der WHU Otto Beisheim School of Management in Koblenz studiert. Millionen haben die Brüder bereits verdient. Marc, Oliver und Alexander sind um die vierzig und gelten als erfolgreichste Unternehmer im Internet – mit einer so dreisten wie cleveren Strategie: Wenn eine neue Geschäftsidee im Ausland erfolgreich wird, gründen die Samwer-Brüder in Europa einen Klon davon, noch bevor das Original die Chance hat zu expandieren. Sobald es so weit ist, sind die Samwer-Brüder zur Stelle, verkaufen ihre geklonte Konkurrenz ans Original und kassieren dabei richtig ab. 1999 gründeten sie den Ebay-Klon Alando und verkauften ihn wenige Monate später an Ebay – für rund vierzig Millionen Franken. Millionen machten sie auch mit dem Verkauf von Studi VZ, dem Facebook-Klon, Citydeal, dem Groupon-Klon, und My Video, dem Youtube-Klon. Und Zalando? Erinnert stark an den amerikanischen Online-Schuhladen Zappos, 1999 gegründet und zehn Jahre später aufgekauft von Amazon für 850 Millionen Dollar.
Jeder Klick wird registriert
Wirtschaftsexperten munkeln, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Samwers aussteigen. Tatsächlich haben die drei Brüder noch an keinem Unternehmen so lange festgehalten wie an Zalando. David Schneider sagt: «Es würde überhaupt keinen Sinn ergeben, so viel Geld in die Infrastruktur und Expansion einer Firma zu investieren, wenn man nicht nachhaltig denken würde.» Mit Geld allein lässt sich der Siegeszug ohnehin nicht erklären. Zalando ist besonders geschickt darin, seinen Kunden die Wünsche vom Computerbildschirm abzulesen. Suchanfragen, Produktbewertungen, jeder Klick wird registriert, jeder Trend sofort erkannt. Fehlen Produkte oder gefragte Marken, werden sie ins Sortiment geholt. Längst hat Zalando auch eigene Design- und Technikerteams. Spürt der Modehändler eine Nachfrage etwa nach geblümten Hosen, kreiert die Berliner Tochterfirma z Labels gleich selber welche und lässt sie produzieren. Zusammengearbeitet wird dabei «mit etablierten Lieferanten aus Asien und Europa», schreibt Zalando.
Inzwischen haben sich unter die rund 1500 Marken ein Dutzend Eigenmarken gemischt. Die heissen nicht offenkundig Zalando, sondern Zign, Mint & Berry oder Anna Field und werden von den Textern als It-Marken angepriesen. Mit ihnen lässt sich viel mehr Geld verdienen als mit fremden Marken. Sucht man nach «Kleidern», sind unter den ersten hundert Treffern mehr als die Hälfte Eigenmarken. Zalando zeigt den Kunden das, was sie wollen, und hilft ein wenig nach. Das ist clever. «David muss nun leider weiter», klinkt sich die Dame von der Medienabteilung ins Gespräch ein. «Ich hoffe, Sie haben alles, was Sie wissen wollten?», sagt Schneider und weiss wohl selber, dass die Frage rhetorisch war. Dafür bewegt sich Zalando viel zu schnell. Ein paar Minuten später schliesst sich das Zalando-Tor und der Pförtner bekommt seinen Badge zurück. Er grinst nicht. Er strahlt.
1.
Zalando-Chefs David Schneider, Rubin Ritter und Robert Gentz
2.
In der Zalando-Zentrale in Berlin
3.
Aussichten wie aus einem Gefängnis-Hof: Die Zalando-Zentrale in Berlin
4.
In 14 Ländern präsent: Für Schweizer Mitarbeiter gehts morgens früher los, weil Schweizerinnen gern zeitig bestellen
5.
«Ich bin sicher kein Fashionexperte»: David Schneider
6.
Neue Ware in der Zalando-Zentrale