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Präsentismus: Hören wir endlich auf, krank zu arbeiten

Präsentismus: Hören wir endlich auf, krank zu arbeiten

Unsere Autorin weiss: Liegt der Körper flach, benötigt er Erholung. Trotzdem zwingt ihr Pflichtbewusssein sie im Krankheitsfall zu arbeiten. Langfristig gesehen leidet aber nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Wirtschaft.

Während der Arbeitszeit krank zu sein, bereitet mir ein schlechtes Gewissen. In meinem Kopf machen mich die ungelesenen Mails trotz Abwesenheitsmeldung zur Kleinkriminellen. Es fühlt sich für mich schlimmer an, einen Arbeitstag im Offline-Modus zu verbringen, als ohne Billett im Tram zu sitzen.

Man nennt dieses Phänomen Präsentismus: Arbeitnehmende unterliegen einem verzerrten Pflichtbewusstsein und ackern sogar mit Fieber oder Arztzeugnis weiter – laut einer Studie der Berner Fachhochschule betrifft das Phänomen Frauen übrigens stärker als Männer. Die Gründe für Präsentismus reichen von der Befürchtung, die Kolleg:innen im Stich zu lassen, bis zur Angst, wegen der Krankheit den Job zu riskieren.

Ich ertappe mich dabei, wie ich Menschen für ihren Präsentismus verurteile. Schliesslich gehöre ich zur Generation Z, die toxische Dynamiken hinterfragt und das Wort «Stress» viel eher mit einer mentalen Grenzüberschreitung verknüpft als mit der goldenen Produktivitäts-Trophäe.

Und trotzdem scheitere ich an einer konstant gesunden Arbeitshaltung. Einmal forderte mich meine Chefin bei einem Meeting deshalb auf, den Call zu verlassen. Ich hatte sie kurz zuvor über mein Magen-Darm-Drama informiert. Nur, falls ich das Zoom-Meeting für eine Flucht ins Bad abrupt hätte verlassen müssen. «Du bist krank», sagte sie mit fürsorglicher Strenge zu mir. Ich setzte zur Verteidigung an, begriff aber derweil: Ja, ich bin krank.

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«Leben Vorgesetzte einen gesunden Umgang mit dem eigenen Kranksein vor, färbt sich das positiv auf das Verhalten der Arbeitskolleg:innen ab»

Aussagen wie die meiner Chefin tragen zu einer förderlichen Unternehmenskultur bei. Mehr noch: Wenn sich Vorgesetzte abmelden, sobald das Thermometer bei ihnen selbst Fieber anzeigt, kommunizieren sie damit, dass die Gesundheit aller Mitarbeitenden wichtig ist. Ihr Umgang mit dem eigenen Kranksein färbt sich positiv auf das Verhalten der Kolleg:innen ab.

Eine Wunschkausalität, die jedoch längst nicht überall Realität ist. Umso mehr müssen wir lernen, für uns einzustehen. «Präsentisten haben ein erhöhtes Risiko, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erleiden», heisst es im Psychologie-Ratgeber «Burn On: Immer kurz vorm Burnout».

Das Nicht-Auskurieren von Erkrankungen könne ausserdem zu längeren Krankheitsphasen führen, schreiben die Autoren Bert te Wildt und Timo Schiele, und die wiederum zu Produktivitätsverlusten: Allein im Jahr 2022 kostete der Präsentismus die Wirtschaft hierzulande zirka fünf Milliarden Franken, das zeigt der Job-Stress-Index der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. Absentismus – der Arbeitsausfall trotz Gesundheit – verursachte im Vergleich dazu im selben Jahr Einbussen von etwa 1.5 Milliarden Franken.

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«Rechtlich gesehen müssen Arbeitgebende auf Arbeitsausfälle vorbereitet sein. Personelle Engpässe sind Teil des Betriebsrisikos»

Doch so plausibel es in der Theorie auch scheint, auf Krankheit mit einer konsequenten Pause zur Genesung zu reagieren, so schwer machen es uns in der Praxis die To-do-Listen. Manchmal kränkeln wir halt gerade dann, wenn im Büro die Hölle los ist. Rechtlich gesehen müssen Arbeitgebende auf solche Situationen vorbereitet sein. Personelle Engpässe sind Teil des Betriebsrisikos.

Hören wir deshalb auf, mit Grippe im Bett auf unser Gewissen einzuprügeln – und salben wir uns stattdessen mit nachsichtiger Regeneration. In diesem Sinne: Gute Besserung!

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