Heike Vesper, die Weltmeere sehen von aussen betrachtet recht fit aus. Täuscht der Eindruck?
Genau das ist das Problem. Es treiben keine Fische mit dem Bauch nach oben und den ganzen Abfall sieht man meistens nicht vom Strand aus. Aufgrund der mangelnden Sichtbarkeit aber fehlt die öffentliche Empörung, und auch die Politik sieht nicht die Dringlichkeit, um Schutzmassnahmen zu ergreifen.
Sie schreiben, wenn das Meer ein Mensch wäre, läge es schon auf der Intensivstation. Woran krankt es?
Wir haben unzählige Baustellen, aber vor allem sind es die Überfischung, die über Jahrzehnte massiv aufgebaute Verschmutzung durch Plastik und die Erwärmung der Ozeane. Unter Wasser findet bereits eine Massenflucht statt, die Fische ziehen aus den heissen Gebieten in kühlere, tiefere Gefilde, was nicht zuletzt zu grossen politischen Streitigkeiten führt.
Inwiefern?
Hering und Makrele, die normalerweise im Einzugsbereich der EU gefischt wurden, sind weiter gen Norden gezogen, so dass Norwegen, Island und Russland nun ebenfalls aus den Beständen fischen. Die EU-Kommission, die für die Verhandlungen mit den sogenannten Drittstaaten verantwortlich ist, konnte bislang keine Einigung erzielen, wenn man sich aber politisch nicht auf einen Umgang einigt, wird die Überfischung massiv vorangetrieben. Denken Sie nur an den Beifang.
«Babyfische bleiben in den Netzen hängen»
Für ein Kilogramm Seezunge gehen etwa sechs Kilo Beifang ins Netz. Was bedeutet das genau, Beifang?
Babyfische, die zu klein für den Verzehr sind, bleiben genau wie Schildkröten, Wale, Haie, Delfine und Seevögel in den Netzen und an den Leinen hängen. Dabei handelt es sich um gigantische Mengen, Millionen von Fischen, die auch nicht einzeln schnell getötet werden, sondern qualvoll ersticken.
In der Schweiz haben wir kein Meer – warum sollten wir uns trotzdem für das Thema interessieren?
Unsere Erde hat zwei Lungenflügel. Der eine ist grün, das sind die Wälder. Der andere ist blau, das sind die Ozeane. Fünfzig Prozent des Sauerstoffs kommt aus den Meeren, die auch als Klimaanlage wirken. Bald neunzig Prozent der Erderwärmung werden über sie abgefedert. Dies wiederum reguliert unser Klima. An den Wetterextremen sieht man ja bereits, dass da etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ganz egal also, wo wir leben und ob wir nun gern Strandferien machen oder nicht: Allein dieser zwei zentralen Funktionen wegen hängen wir alle von der Gesundheit der Meere ab.
Was können wir konkret tun?
Nur noch einmal pro Woche Meeresfisch zu essen und den nur aus nachhaltiger Fischerei zu kaufen, wäre schon mal ein grosser Dienst an den Ozeanen.
Aber benötigen wir nicht seine Nährstoffe?
Es gibt Länder, die es sich nicht leisten könnten, auf Fisch zu verzichten. In Entwicklungsländern wie Madagaskar, im östlichen Afrika oder auch in asiatischen Küstenbereichen ist Fisch oft die einzige tierische Proteinquelle. Wir hingegen sind sehr gut versorgt. Alles, was der Fisch uns bietet, können wir durch pflanzliche Lebensmittel ersetzen.
Und wie genau?
Seefisch gilt als Lieferant von Omega-3-Fettsäuren. Diese produziert der Fisch jedoch selbst gar nicht, diese Fettsäuren hat er nur, weil er Algen frisst. Der Foodtechnikbereich arbeitet mit Hochdruck an Algenprodukten – was dem Fleischersatz sein Erbsenprotein, wird in der Fischabteilung irgendwann die Alge sein. Bis dahin kann mit einem guten Leinöl alles an Omega-3-Fettsäuren kompensiert werden. Und bitte einen grossen Bogen um diese blödsinnigen Krill-Kapseln machen.
«Labels sind zwar keine Heilsbringer, aber ein guter Wegweiser»
Sie sprechen von den sonnig-gelben Nahrungsergänzungskapseln mit Omega-3?
Genau, Krill ist eine kleine Leuchtgarnele, unterste Stufe des Nahrungsnetzes in den Meeren und gerade an den Polen besonders wichtig für die Ernährung der dort heimischen Tiere, etwa für Wale.
Wer dennoch gern Fisch essen möchte, muss worauf achten?
Labels sind zwar keine Heilsbringer, aber ein guter Wegweiser. Also: auf Biozucht achten. Denn auch Süsswasserfische werden oft mit tierischen Proteinen gefüttert, und dann weiss man zumindest, dass die Tiere nicht extra gefangen, sondern die Reste aus der Speisefischproduktion dafür genutzt wurden.
Was können wir gegen die Plastikverschmutzung tun?
Lebensmittel kaufen, die nicht in Plastik verpackt sind, Einwegprodukte meiden. Aber auch Kleidung hat einen hohen Plastikanteil, also weniger davon kaufen. Und die Waschmaschinen richtig beladen. Denn wenn in einer halbleeren Maschine bei jeder Umdrehung die Kleider von oben nach unten klatschen, gehen Fasern verloren und dringen ins Abwasser. Und: Fusselsiebe nie unter fliessendem Wasser reinigen, denn auch hier gelangen Mikropartikel direkt ins Abwasser und sind zu klein, als dass Kläranlagen sie rausfiltern können.
Ihr dringlichster Wunsch an die Politik?
Dass wir die Klimaziele erfüllen und echte Schutzgebiete einrichten. Das ist die einzige Chance. Die nächsten acht Jahre entscheiden, wie unser Planet am Ende aussieht – und die Prognosen des Weltklimarats dazu sind beängstigend. Aber: Wir sind Teil des Problems, also müssen wir auch Teil der Lösung sein. Ich weiss, wir alle sind so krisenmüde – Ernährung, Klima, Corona. Aber wir haben schon andere Krisen in den Griff bekommen. Wir schaffen das.
Heike Vesper ist Meeresbiologin, WWF-Direktorin und Autorin des Buches «Wenn wir die Meere retten, retten wir die Welt» (Rowohlt, 2021, 256 Seiten, ca. 26 Franken)
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