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Wo bleiben die Frauen unter den Flüchtlingen?

Leben

Wo bleiben die Frauen unter den Flüchtlingen?

  • Text: Helene Aecherli; Foto: Getty Images

Über 50 Prozent der Flüchtlinge weltweit sind Frauen. Doch von denen, die Europa erreichen, sind es nur 30 Prozent. Die Rechnung geht nicht auf. Und sie lässt Schlimmes ahnen.

Die Bilder ähneln sich: erschöpfte Menschen, apathisch oder schüchtern lächelnd, erleichtert, die Flucht überlebt zu haben. Sie erzählen davon, dass dieses Jahr über 700 000 Menschen auf dem See- oder Landweg nach Europa gekommen sind, vor allem aus Syrien, Eritrea, Afghanistan. Grossaufnahmen von Frauen, Babys im Arm, mahnen daran, dass es Menschen sind, die der Not entfliehen, appellieren an die Solidarität, die den Flüchtlingen noch im Sommer entgegenbrandete, jetzt aber in Nüchternheit abzugleiten droht. Doch sind es just diese Bilder, die etwas verschleiern, das in den Flüchtlingsdebatten fast gänzlich untergeht: das Missverhältnis zwischen den Geschlechtern. Denn gemäss der Datenbank der Europäischen Kommission, Eurostat, sind siebzig Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa und in die Schweiz gelangen, Männer. Nur knapp ein Drittel sind Frauen.

Zahlen des Staatssekretariats für Migration verdeutlichen dieses Ungleichgewicht: Zwischen Januar und Ende September 2015 reichten in der Schweiz 6751 Frauen und 17 461 Männer ein Asylgesuch ein. Zwar sind dreissig Prozent keineswegs marginal, trotzdem scheint dieses Missverhältnis angesichts der weltweiten Flüchtlingszahlen paradox. Denn laut Schätzungen des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist jeder zweite der über sechzig Millionen Flüchtlinge weiblich. Die Schweizer Organisation Terre des Femmes geht sogar davon aus, dass die Mehrheit der Menschen, die aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen vertrieben werden, Frauen sind. Doch nur ein Bruchteil davon erreicht Europa. Wo bleiben die restlichen?

Sie bleiben hinter den Männern zurück. In den Krisenregionen selbst oder in Flüchtlingslagern der angrenzenden Länder, in die sie geflohen sind, oft mit ihrer Grossfamilie, und wo sie «parkiert» werden, bis es irgendwie weitergeht. Die meisten Frauen harren in Informal Camps aus, in Abbruchhäusern oder selbst gezimmerten Hütten in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, Kenia oder Pakistan.

Die Gründe, die Frauen zurückbinden, sind vielschichtig. Eine zentrale Rolle spielt die Armut – siebzig Prozent der unter dem Existenzminimum lebenden Weltbevölkerung sind Frauen –, gekoppelt mit traditionellen Normen und patriarchalen Strukturen. So ist es für viele Frauen undenkbar, ohne Begleitung des Ehemannes oder Bruders loszuziehen. Zudem wird «vor allem in das physische Potenzial des Mannes investiert», erklärt Natalie Trummer, Geschäftsleiterin von Terre des Femmes. Die meisten Männer, die nach Europa aufbrechen, sind zwischen 18 und 34 Jahre alt, viele von ihnen unverheiratet, viele einst im Visier extremistischer Milizen oder in Gefahr, vom herrschenden Regime verhaftet zu werden. Häufig haben ganze Dorfgemeinschaften gesammelt, um deren Reise nach Europa zu finanzieren – in der Hoffnung, dass die jungen Männer dort eine siche re Zukunft finden und sich später beim Heimatdorf revanchieren werden. Frauen aber tragen nicht nur die Verantwortung für die Kinder, was sie in ihrer Mobilität einschränkt, sondern auch, und das geht oft vergessen, für die Alten.

Dennoch, traditionelle Normen sind weder unumstösslich noch unverhandelbar. Frauen setzen sich immer wieder darüber hinweg, sei es aus Rebellion oder schierer Not. Mit den traditionellen Normen allein lässt sich das ungleiche Geschlechterverhältnis der Flüchtlinge also nicht erklären. Gräbt man weiter, stösst man auf ein Phänomen, das so offensichtlich ist, wie es tabuisiert wird: sexualisierte Gewalt.

Sexualisierte Gewalt – Genitalverstümmelungen, Zwangsverheiratungen oder drohende Ehrenmorde – gehört nicht nur zu den in Asylgesetzen verankerten frauenspezifischen Fluchtgründen. Sie ist auch einer der Hauptgründe, der Frauen vor einer Flucht nach Europa zurückschrecken lässt. Denn längst hat es sich herumgesprochen, dass das Risiko immens ist, auf den langen Fluchtwegen von marodierenden Banden, männlichen Asylsuchenden, Lageraufsehern oder Polizisten vergewaltigt, entführt oder zur Prostitution gezwungen zu werden. Eine Studie des UNHCR lässt gar den Schluss zu, dass praktisch alle Frauen, die allein oder mit Kindern fliehen, Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Selbst Frauen mit Familie sind nicht dagegen gefeit. «Oft werden Familien auf der Flucht auseinandergerissen oder Schutzstrukturen aufgebrochen, was Frauen verletzlicher macht», sagt Anja Klug, Leiterin des UNHCR-Büros Schweiz und Liechtenstein. «Wenn viele Menschen auf engem Raum zusammengepfercht sind, wie es in Flüchtlingsunterkünften oder auf Schlepperbooten oft der Fall ist, kann es leicht zu Übergriffen kommen.»

Was tun? Anja Klug betont, dass sich die Lage der Frauen nur entschärfen lässt, wenn es gelingt, legale Kanäle zu schaffen, über die sie nach Europa kommen können. Zurzeit verfolgt das UNHCR Schweiz mit internationalen Partnern das «Resettlement and Women at Risk»-Programm, das darauf abzielt, speziell verletzliche Personen in Konfliktregionen zu erfassen und ihnen zur Ausreise in ein Asylland zu verhelfen.

Mit harten Zahlen argumentiert Kilian Kleinschmidt. Der ehemalige Bürgermeister des Flüchtlingslagers Za’atari in Jordanien, mit 80 000 Bewohnern eines der grössten der Welt, fordert die internationale Gemeinschaft auf, Flüchtlingshilfswerken, aber auch Aufnahmeländern wie Jordanien und der Türkei, nicht bloss 1.8 Milliarden, wie kürzlich gutgeheissen, sondern 100 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen. Denn nach Jahren des Krieges, fehlender Erwerbsmöglichkeiten und schrumpfender Hilfeleistungen ist die Lage der Flüchtlinge prekär. Es gilt, den Menschen Ausbildung und legale Arbeitsplätze zu geben, damit sie Anreize erhalten, in der Region zu bleiben. Zudem könnte eine weitere alarmierende Entwicklung in den Lagern und Informal Camps eingedämmt werden: Immer mehr Eltern verheiraten ihre minderjährigen Töchter an besser gestellte, ältere Männer – getrieben von finanzieller Not, paradoxerweise aber auch, um die Mädchen vor sexueller Gewalt zu schützen. Gemäss der Organisation Save the Children ist bei den syrischen Flüchtlingen der Anteil an Kindsbräuten allein in Jordanien innert zwei Jahren von 18 auf 25 Prozent gestiegen.

Eines ist gewiss, es wird keine einfachen Lösungen geben. Die Stimmen, die restriktivere Asylgesetze, ja sogar die Schliessung der Grenzen fordern, werden sich mehren. Dieser Tendenz ist entgegenzutreten. Fakt ist: In Zukunft wird es eine international koordinierte Flüchtlingspolitik brauchen, die über Europa hinausgeht. Und es wird mehr denn je darum gehen, dafür zu sorgen, dass gerade Frauen und Kinder die gefährliche Flucht erst gar nicht riskieren müssen, sondern vor Ort Möglichkeiten finden, ein Asylgesuch einzureichen – sei es durch die Wiedereinführung des Botschaftsasyls, mittels Online-Asylverfahren oder ganz niederschwellig über Anlaufstellen der Uno in Flüchtlingslagern und Informal Camps. Hier werden kreative Ideen von Politik, Behörden und Institutionen gefordert sein.