Kamila Markram (42) ist Gründerin und Geschäftsführerin der Open-Access-Plattform Frontiers. Darin macht die in Lausanne lebende Neurowissenschafterin öffentlich, was bisher nur im universitären Elfenbeinturm und in elitären Fachmagazinen zu finden war: Die cleversten Erkenntnisse von Forschenden aus aller Welt.
annabelle: Kamila Markram, Sie wollen Wissenschaft für alle Menschen frei zugänglich machen – ein Bestreben, das gerade in Zeiten von Fake News enorm wichtig erscheint.
Kamila Markram: Ich bin überzeugt, dass wir im Internet Enklaven brauchen, die vertrauenswürdig und mit Qualitätssiegeln versehen sind. Wenn man beispielsweise den Klimawandel faktenbasiert vermitteln will, braucht man auch die wissenschaftlichen Hintergründe dazu. Nur sind diese bisher fast immer hinter hohen, dicken Mauern verborgen. Weil sie in Magazinen publiziert wurden, zu denen nur ganz wenige Zugang haben.
Das ändern Sie mit Ihrer Open-Source-Plattform Frontiers. Wie kam es dazu?
Es ist ein wichtiger Teil der akademischen Laufbahn eines Forschenden, dass er oder sie seine Forschungsarbeit in spezifischen Wissenschaftsmagazinen publizieren kann. Als ich als Doktorandin meinen ersten Artikel in einem solchen Journal veröffentlichte, wollte ich ihn gleich herunterladen, um ihn mit Freunden und Kollegen zu teilen. Doch das war nicht möglich.
Weshalb?
Weil meine damalige Universität, die École Polytechnique Fédérale in Lausanne, eine der reichsten Bildungsinstitutionen weltweit, über keine Berechtigung dazu verfügte. Da wurde mir bewusst: Wenn ich als Angehörige einer renommierten Universität keinen Zugriff auf meine eigenen Artikel habe, werden auch ganz viele andere Wissenschaftler keinen haben – und Nicht-Wissenschaftler schon gar nicht. Ich hatte in meiner Doktorarbeit über Autismus geforscht. Die Ergebnisse sind auch für Betroffene oder deren Angehörige interessant. Mit meinem Mann, ebenfalls ein Neurowissenschaftler, beschloss ich als Resultat aus dieser Erfahrung die Plattform Frontiers aufzubauen. Denn ich finde, die Wissenschaft gehört uns allen.
Kann ich denn Texte auf Frontiers auch als Nicht-Wissenschaftlerin verstehen?
Hauptsächlich sind es wissenschaftliche Artikel, die meist nur für Experten interpretierbar sind. Aber wir haben auch eine Abteilung, die die Artikel für alle verständlich macht, allen voran Kindern.
Wie übersetzt man harte Wissenschaftlichkeit für Kinder verständlich?
Für das Online-Wissenschaftsjournal «Frontiers for young minds» sprechen die Kinder direkt mit Forschenden. Diese müssen ihnen die Erkenntnisse verständlich erklären, kurz und bündig. Und die Kinder geben auch direkt Feedback, ob sie es verstanden haben oder nicht.
Wissenschaft für alle, das ist eine grunddemokratische Idee.
Ja, und ebenso ein ökonomische. Wissenschaft ist der Motor unserer modernen Gesellschaft. Sie ist der Grund, warum Sie mit dem Zug zu uns nach Lausanne reisen konnten. Der Grund, warum die Menschen heute länger leben, warum die Kindersterblichkeit abnahm. Wenn alle wissenschaftlichen Erkenntnisse für alle Menschen weltweit frei zugänglich sind, wird die Innovation angekurbelt – und damit auch die Wirtschaft.
Über Downloads und Klicks kann man bei Frontiers auch erfahren, wo Innovationen als nächstes geschehen werden – je nachdem, welche Themen in einem Land auf Ihrer Plattform am meisten nachgefragt werden.
Ja, wir verfügen quasi über eine Weltkarte der wirtschaftlichen Entwicklung. In Brasilien beispielsweise sind momentan Pflanzen- und Agrarwissenschaften sehr gefragt, in Indien sind es Erkenntnisse rund um Public Health. Die grossen Hubs bestehen aber in Europa und Nordamerika, in den letzten Jahren hat sich zudem China sehr stark entwickelt.
Diese Erkenntnisse können ziemlich wertvoll sein. Verkaufen Sie sie?
Eben nicht. Unsere Einnahmequelle besteht in der Gebühr, die wir pro veröffentlichten Artikel beim Forschenden erheben. Normalerweise wird diese aus einem Publikationsbudget bezahlt, das von der Universität oder Forschungsförderern bereitgestellt wird. Danach ist der Artikel allen frei zugänglich.
Was sind Ihre nächsten Ziele mit Frontiers?
Wir wollen in den nächsten fünf Jahren zur weltweit grösste Open-Acess-Plattform werden. Dafür müssen wir weiter wachsen. Schon heute betreiben wir neben dem Hauptsitz in Lausanne Büros in den USA, Spanien und England. Wir vereinen auf unserer Plattform mehr als 100’000 Beiträge. Pro Jahr publizieren wir derzeit 30’000 Artikel. Die eingesandten Forschungen werden von 80’000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler renommierter Universitäten wie Harvard, ETH Zürich oder Oxford detailliert auf Qualität und Richtigkeit überprüft.
Welchen Anteil machen die Frauen unter diesen Qualitätsprüfern aus?
Bei uns spiegelt sich ziemlich exakt das Verhältnis wieder, das auch in den Institutionen herrscht. 25 Prozent sind Frauen, 75 Prozent Männer. Es braucht unbedingt mehr Frauen in der Wissenschaft. Es kann nicht sein, dass die Gesellschaft zur Hälfte aus Frauen besteht, diese aber in der Forschung kaum vertreten sind.
Sind Sie für eine gesetzliche Frauenquote?
Grundsätzlich ja. In unserem Unternehmen achten sowieso schon sehr darauf. In den Führungspositionen von Frontiers sitzen über 50 Prozent Frauen. In unserem IT-Büro in Indien sind sogar 70 Prozent der Ingenieure Frauen – und bauen verdammt gute Software. Ich bin davon überzeugt: Diversity macht einen stärker.
Kamila Markram, 42, geboren in Polen, wuchs in Deutschland auf, studierte später Neurowissenschaft unter anderem am Max Planck-Institut. 2005 zog sie für ihre Doktorarbeit an der École polytechnique fédérale (EPFL) nach Lausanne. 2007 baute sie mit ihrem Mann Henry Markram die Firma Frontiers auf. Sie hat fünf Kinder, von denen drei aus der ersten Ehe ihres Mannes stammen. Sie lebt in Lausanne.
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