Protest-Woche Gesundheit: «Wir wurden mit verzweifelten Mails überflutet»
- Text: Vanja Kadic
- Bild: ZVG
Vom 26. bis 31. Oktober findet schweizweit die Protestwoche Gesundheit statt. Das Bündnis Gesundheit fordert bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen, mehr Schutz für das Personal und eine finanzielle Entschädigung. Elvira Wiegers, Zentralsekretärin Gesundheit beim Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD), erklärt, unter welchen Belastungen Gesundheitsfachpersonen wegen Corona besonders leiden – und warum die Protestwoche ausgerechnet jetzt stattfindet.
annabelle: Elvira Wieders, warum ist eine Protestwoche nötig?
Elvira Wiegers: Es braucht viel mehr als eine Protestwoche. Sie ist nötig, damit das Gesundheitspersonal seine Stimme erheben kann. Die Coronasituation ist nur ein Brennpunkt: Es geht um die Arbeitsbedingungen unseres Gesundheitspersonals, die sich seit Jahren stetig verschlechtern.
Wie zeigt sich diese Entwicklung?
Sie manifestiert sich in einer hohen Berufsausstiegsquote, die bei fast fünfzig Prozent liegt. Das sind Tausende von Personen, die ausgebildet wurden und aus dem Beruf wieder aussteigen, weil sie es einfach nicht mehr ertragen. Auch die extrem tiefe Verweildauer im Beruf, die bei unter zwanzig Jahren liegt, weist darauf hin, dass etwas im Argen liegt. Die Leute laufen davon und bleiben nicht lang im Beruf. Und seitens der Politik oder der Arbeitgeber fehlt seit Jahren der Wille, dieses riesige strukturelle Problem des Personalmangels anzugehen.
Worauf ist diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zurückzuführen?
Das hat unter anderem mit dem Finanzierungssystem DRG zu tun, das 2012 in den Spitälern eingeführt wurde, andererseits aber auch mit einer permanenten Sparwelle. Dieser Strukturwandel führte dazu, dass sich beim Personal ein stetiger Druck aufbaute. Das Personal hat dort, wo solche Gesetze gemacht werden, keine Lobby und kann sich beim Arbeitgeber zu wenig durchsetzen.
Was hat das Finanzierungssystem mit dem Druck auf das Personal zu tun?
Dieses Fallpauschalen-System soll die Spitäler dazu zwingen, effizienter zu wirtschaften, um sich so gegen andere Spitäler im freien Wettbewerb zu behaupten. Es führt dazu, dass Spitäler unter einem extremen Spardruck stehen, der aufs Personal abgewälzt wird. Das ist eine Entwicklung, die in vergangenen Jahren zugenommen hat.
Sie wollen dem Gesundheitsfachpersonal eine Plattform geben, um die Stimme zu erheben. Welche Rückmeldungen haben Sie während der ersten Corona-Welle bekommen?
Wir wurden mit verzweifelten Mails und Hilfeschreien überflutet. Die Leute hatten teilweise Panik, fühlten sich ausgeliefert und wie Kanonenfutter. Viele haben uns angeschrieben und meinten: Ihr schaut schon, dass es nicht nur beim Klatschen bleibt, oder? Auch wir fanden, dass Klatschen nicht reicht.
Nach der ersten Welle gründete der VPOD mit weiteren Organisationen aus dem Gesundheitsbereich das Bündnis Gesundheit. Was war der ausschlaggebende Faktor dafür?
Nach der ersten Welle und den Klatschkonzerten realisierten wir, dass bezüglich einer Entschädigung weder von der politischen Seite noch seitens der Arbeitgeber mehr kommt als ein herzliches Dankeschön. Niemand machte Anstalten, sich mit den Arbeitsbedingungen und der Situation des Gesundheitspersonals zu befassen. Da fanden wir: Jetzt wird es Zeit, etwas zu machen. Und wir müssen uns zusammenschliessen, um unseren Forderungen mehr Gehör zu verschaffen.
«Teilweise hatten die Leute nackte, panische Angst, weil es zu wenig Schutzmaterial gab»
Von welchen Erfahrungen berichteten die Gesundheitsfachpersonen ganz konkret?
Teilweise hatten die Leute nackte, panische Angst, weil es zu wenig Schutzmaterial gab. Anfangs war ausserdem die Situation der gefährdeten Personen noch unklar und es dauerte lang, bis man Betroffene freistellen konnte. Wir versuchten lang, die Schwangeren besser zu schützen – heute haben schwangere Frauen glücklicherweise den Status besonders gefährdeter Personen, die es zu schützen gilt. In der ersten Welle riefen uns schwangere Frauen weinend an, die Angst hatten, zur Arbeit zu gehen. Die Leute waren psychisch wahnsinnig gestresst. Leute, die im Gesundheitsbereich arbeiten, fürchteten sich, jemandem aus dem privaten Umfeld den Tod zu bringen. Auch die sich ständig ändernden Richtlinien waren eine Überforderung: In einigen Spitälern oder Altersheimen war die Kommunikation unterirdisch schlecht. Die Informationen, die kommuniziert wurden, widersprachen sich oft. Ein weiterer Tiefpunkt war, dass das Arbeitsgesetz in den Spitälern im März für sechs Monate ausgehebelt wurde.
Was heisst das?
Die Höchstarbeitszeit wurde aufgehoben. Unter dem geltenden Arbeitsgesetz ist es bereits legal, sechzig Stunden pro Woche zu arbeiten. Das ausgehebelte Arbeitsgesetz bedeutete, dass die Leute noch länger schuften konnten – und das ist eine wahnsinnige zusätzliche Belastung. Die Gesundheitsfachpersonen mussten sich, wie alle anderen auch, mit diesem neuen Virus, das niemand kennt, auseinandersetzen. Und das mit fehlendem Schutzmaterial. Das ausgehebelte Arbeitsgesetz hatte teilweise auch Konsequenzen auf Pausen und Ruhezeiten. Besonders absurd: Das wäre nicht nötig gewesen, wenn Institutionen besser koordiniert und zusammengearbeitet hätten. Wir gehen davon aus, dass sich das jetzt in der zweiten Welle ändert.
Neben besserem Schutz für Angestellte und besseren Arbeitsbedingungen fordern Sie auch eine finanzielle Entschädigung von mindestens einem Monatslohn für die ausserordentlichen Belastungen.
Aus meiner Erfahrung arbeiten im Gesundheitsbereich Menschen, vor allem Frauen, mit einem grossen ethischen und moralischen Kompass. Das sind Menschen, die sich eher zu Tode schuften, als jemanden im Stich zu lassen. Es ist für sie okay, dass der Job gefährlich ist – aber mit dem Schutzmaterialmangel und der mangelnden Anerkennung mussten die Leute merken: Wir kommen mit unserer Gesundheit und Befindlichkeit ganz am Schluss. Wir fordern diese Prämie als Entschädigung für die Art, wie Betroffene arbeiten mussten. Als Entschädigung für die Gefährdung des eigenen Lebens und als Wertschätzung.
Die Positivitätsrate und die Hospitalisierungen steigen, wir befinden uns in der zweiten Welle. Wie ist die Stimmung unter Gesundheitsfachpersonen jetzt?
Viele haben Angst und fragen sich, ob die Arbeitgeber und die Politik wirklich gerüstet sind und ihre Lektion aus der ersten Welle gelernt haben. Wir haben Hinweise darauf, dass die Leute erschöpft sind und sich im Sommer nicht von der ersten Welle erholen konnten. In Spitälern werden Mitarbeiter vielerorts gebeten, ihre Pensen zu erhöhen, um für die nächsten Monate gewappnet zu sein. Viele sind wütend, dass von ihnen nur gefordert wird und nichts zurückkommt. Im Bezug auf die Protestwoche gibt es allerdings zunehmend kritische Stimmen, die fragen, warum wir ausgerechnet jetzt, in Zeiten rasant steigender Fallzahlen, mobilisieren.
Was antworten Sie darauf?
Wir sehen, dass vom Personal jetzt wieder genau der gleiche oder sogar ein höherer Einsatz gefordert wird. In den vergangenen Monaten kam aber nichts an Dank, Anerkennung oder der Zusage zurück, sich etwa um das Problem des Personalmangels zu kümmern. Natürlich gäbe es einen besseren Zeitpunkt, aber wann ist dieser? Wir bekamen von vielen Leuten aus dem Gesundheitspersonal das klare Signal: Bitte schaut nicht länger zu, lasst uns nicht länger in diesem Vakuum.
Die Protestwoche umfasst verschiedene Aktionen in der ganzen Schweiz, etwa eine Menschenkette in St.Gallen, ein Gesundheitsmarsch in Basel, eine Abschlussaktion auf dem Bundesplatz. Wie sieht Ihr Schutzkonzept aus?
Wir führen kontrollierte Aktionen an der frischen Luft durch, für die man sich anmelden muss. Dabei herrschen selbstverständlich Sicherheitsabstand und Maskenpflicht. Wir haben alles akribisch organisiert und beurteilen die Lage bei allen Protestaktionen immer wieder neu. Uns ist bewusst, dass wir mitten in der zweiten Welle stecken und dass es um die Gesundheit von uns allen geht. Wir glauben aber trotzdem, dass es wichtig ist, dem Gesundheitspersonal eine Stimme und eine Plattform zu geben.
Mehr Informationen zur Protestwoche Gesundheit finden Sie hier.
Elvira Wiegers ist Zentralsekretärin Gesundheit beim Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) und Co-Präsidentin der VPOD-Personalkommission.