Leben
«Wir hatten eine lustige Jugend»
- Text: Kerstin Hasse und Viviane Stadelmann; Fotos: Dan Cermak
Vor 60 Jahren wurde in der annabelle die Grossfamilie Bosshart vorgestellt, die mit zwölf Kindern unterhalb des Uetlibergs wohnte. Kaum zu glauben, aber auch heute leben die zwölf Geschwister noch alle – und sie haben viel zu erzählen.
1957 erschien der Artikel mit dem Titel «Im Hause soll beginnen» in der annabelle – eine Anspielung auf das Zitat von Jeremias Gotthelf «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland». Vorgestellt wird die Familie Bosshart – eine glückliche Grossfamilie , die zwar die Nöte und Sorgen nach dem Krieg kennt, die aber vor allem harmonisch in dem Häusschen unter dem Uetliberg lebt. Dass das Leben in einem Haushalt mit 14 Bewohnern nicht immer nur rosig ist, erfahren wir erst 60 Jahre später. Zum 90. Geburtstag des ältesten Bruders treffen sich die zwölf Geschwister wieder, um zu feiern, zu plaudern und zu singen – und wir sind dabei. Wir haben die Familiefeier besucht und mit den Geschwistern über ihre Erinnerungen an das Leben in der Grossfamilie gesprochen. In unserer Bildergalerie haben wir einige der bewegendsten und spannendsten Anekdoten gesammelt. Mehr zu der Grossfamilie Bosshart und zum Artikel aus dem annabelle Archiv finden Sie im aktuellen Heft 12.
* In der Bildergalerie sind auf Wunsch der Beteiligten elf der zwölf Geschwister abgebildet.
1.
«Wir hatten eine lustige Jugend, haben viel zusammen erlebt. Aber ich bin und war immer ein Individualist. Ich bin ein kreativer und schöpferischer Mensch, und diese Kreativität wollte ich ausleben – und in der Grossfamilie war das nicht so einfach. Wenn man in Ruhe studieren will und daneben im Zimmer einer Geige spielt und irgendwo ein Kind weint und ständig geplappert wird, kann man sich nicht konzentrieren. Mit Mitte 20 bin ich ausgezogen, ich hatte eine kleine Bude im Niederdorf, ganz für mich. Klar, ich war der Älteste, und ich glaube, ich war da für meine Familie, wenn sie mich brauchte, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich ein Vaterersatz sein muss. Diese Rolle hätte mir auch nicht gepasst, denn ich wollte unbedingt unabhängig sein.»
2.
«Ich übernahm als älteste Schwester praktisch ebenso die Rolle der Mutter. Für fünf Geschwister war ich der erste Anlaufpunkt: Ich kümmerte mich um Niklaus, Ursula, Veronika, Josef und das Nesthäkchen Regula. Einmal war Regula so krank, dass sie beinah gestorben wäre. Der Arzt meinte, wenn niemand die Nacht über an ihrem Bett sitzen würde, um sie zu pflegen, sei sie am nächsten Tag tot. Die Mutter hatte keine Zeit dafür, also sass ich die ganze Nacht an ihrem Bett, machte Essigwickel, flösste ihr Wasser ein. Der Arzt war am nächsten Tag vom guten Zustand der Schwester mehr als überrascht. Auch die anderen Geschwister habe ich gebadet, ihre Nägel geschnitten. Und Gutenachtgeschichten erzählt – das habe ich geliebt! Ich hatte aber nie das Gefühl, selbst zu kurz zu kommen. Ich mochte es, gebraucht zu werden.»
3.
«Mein Mann ist im Alter von 46 Jahren gestorben. Er hatte eine Hirnblutung, und er war von einem Tag auf den anderen tot. Meine Kinder waren damals 14, 13 und 11 Jahre alt. Es war eine happige Zeit. Ohne meine Geschwister hätte ich das nicht geschafft. Ich konnte mit ihnen darüber reden, das hat sehr geholfen. Jedes Jahr an Weihnachten bin ich mit meinen Kindern zu einer Schwester oder zu einem Bruder. Ich musste nie bei fremden Leuten Hilfe suchen, das finde ich schön. Es war gar nicht unbedingt so, dass bei jeder Krise alle zusammenkamen – das wäre geografisch gar nicht möglich gewesen – aber man wusste immer, dass jemand Zeit hat und für einen da ist.»
4.
«Toni hat sich immer für mich eingesetzt, egal in welchen Belangen. Und ich habe jedes Mal geweint, wenn Toni in der Schule bestraft wurde, weil sie als die Freche galt. Ich selbst habe mich wie auf einer eigenen Wolke gefühlt, in Watte gepackt. Ich habe weder unter der Armut gelitten noch sonst Probleme mit den Geschwistern gehabt. Ich habe irgendwie in meiner eigenen naiven Welt. Aber ich hatte immer das Gefühl, mich selbst sein zu können. Das habe ich auch von meiner Mutter gelernt: Sie hat jedem Kind ihren eigenen Charakter gelassen, ja sogar gefördert.»
5.
«Es war toll, dass ich mit meiner Zwillingsschwester stets eine Freundin an meiner Seite hatte. Die anderen Geschwister mussten sich neue Freunde suchen in der Klasse, aber wir wurden immer gleich eingeschult. Für die anderen war ich ein lebhaftes Energiebündel und eckte darum oft an. Häufig hatte ich das Gefühl, dass ich eine Belastung für die Mutter war. Ein frecher Wirbelwind, den man kaum bändigen konnte und der im Vergleich zu den anderen Geschwistern aus dem Rahmen fiel. Am meisten geprägt in einer Grossfamilie haben mich aber die damaligen Lebensumstände. Ich galt zwar als lebhafter Teufel, war aber eigentlich übersensibel. Um Französisch zu lernen, musste ich damals allein ins Welsche. Wir hatten kein Geld, dass jemand mit mir kommt. Solche DInge, die das Leben mit sich brachten, prägten mich am meisten.»
6.
«Am meisten geprägt wurde ich von den Zwillingen Elisabeth und Antoinette, wir hatten zusammen ein Zimmer. Am Abend lagen wir in unseren Betten und haben geplaudert, uns Geschichten erzählt, Lieder selbst erfunden und zusammen gekuschelt. Der Vater hatte das Büro unterhalb von unserem Zimmer. Wenn es ihm zu laut wurde, ist er zu uns herauf gekommen und hat uns getadelt. Dann waren wir einen Moment leiser, bevor es wieder von vorn losging. Ich weiss noch, wie sie über ihre Schulschätze geredet haben, das fand ich natürlich besonders interessant. Lustig ist, dass einer ihrer damaligen Schätze später mein Mann wurde – ich kann mich noch bis heute erinnern, wie sie damals in unserem Zimmer über ihn tuschelten.»
7.
«Eine Nacht ist mir bis heute in lebhafter Erinnerung. Ich weiss noch, wie ich eines Abends meinem Vater gute Nacht wünschte. Das war so üblich: Alle Kinder sind immer noch bei Vater vorbei vor dem Schlafengehen. Manchmal standen wir sogar in einer Reihe. An diesem Abend war Vater anders als sonst, er war nervös. Ich lag bereits eine halbe Stunde im Bett, als ich plötzlich lautes Weinen hörte. Ich war aufgeregt, aber man durfte nicht mehr aus dem Zimmer kommen. Am nächsten Tag sah ich Regula, die jüngste Schwester. Sie war in der Nacht geboren. Ich hatte ihre ersten Schreie gehört.»
8.
«Unsere Eltern waren sehr religiös. In der Adventszeit gab es einen so genannten Chrüzlizettel, eine Art tabellarische Übersicht. Die jüngeren Geschwister mussten jeden Abend zur Mutter und mitteilen, ob wir was Gutes geleistet oder ein Opfer erbracht. Wenn man ein gutes Werk getan hatte, gabs ein Kreuzchen. Als Kind mochte ich das. Lieb sein, um geliebt zu werden. Auch wenn ich mittlerweile anders über Religion denke: Damals gab einem die Weihnachtszeit und unsere damalige Frömmigkeit Wärme und Geborgenheit.»
9.
«Mein Mann William kommt aus Ghana. Ich traf ihn als junge Frau in London, wo ich Englisch lernte. Nachdem ich ihn erst drei Monate gekannt hatte, musste ich zurück in die Schweiz. Es folgten intensive Briefwechsel, worauf er dann die Heirat vorschlug. Meine Geschwister dachten, ich spinne und die Eltern haben auf die Neuigkeiten gar nicht gut reagiert. William kam extra in die Schweiz, um sich bei meinen Eltern vorzustellen und um meine Hand anzuhalten. Daraufhin wurde eine Familiensitzung einberufen, in der mich vor allem Walter unterstützte. Aber besonders der Segen der Eltern wäre mir wichtig gewesen, aber sie verweigerten ihn uns. Erst als ich schon fast verheiratet war, habe ich den Segen erhalten – und zwar durch den herzlichen Empfang bei meinem nächsten Besuch in der Schweiz. Das war für mich ein stille Zustimmung.»
10.
«Ich war kein glückliches Kind. Als Zweitjüngste ging ich irgendwie unter, und in der Pubertät rebellierte ich. Aber ich muss auch nicht traurig sein über die Vergangenheit, sie hat mich gestärkt. Und wenn man wirklich Hilfe brauchte, dann war Mutter für uns da. Ich kann mich erinnen, dass in der Weihnachtszeit die Kleinsten jeweils Gedichte aufsagen mussten. Das fand ich damals schon schrecklich und als wir ein paar Jahre späte in der Lehre auch wieder Gedichte aufsagen sollten, kam das für mich nicht infrage. Meine Lehrmeisterin regte sich furchtbar auf. Meine Mutter stand hinter mir und bestärkte mich darin, ein eigenes Gedicht zu schreiben. Es ging mir nicht darum, dass mich Mutter vom Unterricht freiboxte, sondern darum, ihren Zuspruch zu erhalten. Den Anfang meines eigenen Gedichts kann ich heute noch.»
11.
«Ich habe mich regelmässig aus dem Haus geschlichen in der Nacht. In unserem Haus wurde die Privatsphäre der anderen wirklich respektiert, wir wären nie einfach so ins Zimmer eines anderen gegangen. Das konnte ich ausnutzen: Ich verabschiedete mich, um ins Bett zu gehen, und kletterte dann durch mein Fenster. Ich ging tanzen, Musik hat mir immer viel bedeutet. Mein Eltern waren sehr konservativ, und sie hätten es nicht gern gesehen, dass ich in den Ausgang gehe – auch wenn sie selbst Musik sehr mochten. Alle Kinder haben ein Instrument gespielt, und manchmal haben wir den Tisch im Esszimmer auf die Seite geschoben und alle zusammen musiziert und gesungen und getanzt. Sogar die Nachbarn sind dann dazugekommen.»