Leben
«Wir haben Kunst und Kultur lange nicht mehr so gebraucht»
- Interview: Helene Aecherli; Bild: Getty Images
Kunst und Kultur sind kein «nice to have», sondern ein universelles Menschenrecht. Doch das wird von den Folgen des Klimawandels, von autoritären Regimes und Sparmassnahmen zunehmend bedroht. Uno-Sonderberichterstatterin Karima Bennoune über lustvollen Widerstand, Mut und Humor als Verteidigungsstrategie.
annabelle: Karima Bennoune, was hat Sie in den vergangenen Monaten wieder mal so richtig zum Lachen gebracht?
Karima Bennoune: Ein Video über Social Distancing, das der Schauspieler und Komiker Mel Brooks mit seinem Sohn Max produziert hat. Ich habe mir danach gleich noch den Film «To Be or Not to Be» angesehen. Er entführte mich für einen Moment in eine andere Realität, und das empfand ich als Riesengeschenk. Wie sagte da Mel Brooks so schön: «Humor ist einfach eine weitere Verteidigung gegen das Universum.» Wie wahr!
A message from me and my dad, @Melbrooks. #coronavirus #DontBeASpreader pic.twitter.com/Hqhc4fFXbe
— Max Brooks (@maxbrooksauthor) March 16, 2020
Wir haben Humor lang nicht mehr so gebraucht wie heute in Zeiten der Corona-Pandemie.
Lassen Sie es mich so sagen: Wir haben Kunst und Kultur – und da gehört Humor dazu – lang nicht mehr so gebraucht. Deshalb habe ich spontan den Hashtag #healthyculturemakesusstronger lanciert. Mit healthy culture meine ich Formen des kulturellen Ausdrucks, die sich mit anderen Menschen teilen lassen und Mut machen.
Warum sind diese Formen des kulturellen Ausdrucks gerade in Krisenzeiten so wohltuend?
Als ich in Afghanistan den Einfluss fundamentalistischer Strömungen auf die Zivilgesellschaft untersuchte, begegnete ich einer Frau, die sich in einer prekären Sicherheitslage befand. Ich fragte sie, wie sie es schaffte, jeden Morgen aufzustehen und aus dem Haus zu gehen. Sie schaute mich an und sagte: «Dank meines Optimismus. Er ist mein Schlüssel zum Überleben.» Damit trifft sie wohl den Punkt. Analog dazu nähren all diese humorvollen Videos, wie wir sie nun in der Pandemie gesehen haben, unseren Optimismus und helfen uns, weiterzuleben. Und später werden sie uns daran erinnern, wie wir es geschafft haben, mit der Krise umzugehen, und was uns damals wichtig war.
Sie sind Uno-Sonderberichterstatterin für kulturelle Rechte und haben damit, wie Sie einmal sagten, zwei Jobs: Der eine ist es, das Bewusstsein für diese Rechte zu wecken und dafür zu kämpfen, dass sie eingehalten werden. Der andere, darüber zu wachen, dass sie nicht missbraucht werden. Nur – wie genau definieren Sie kulturelle Rechte?
Kulturelles Recht bedeutet, das Recht jedes Individuums, ohne Einschränkung oder Diskriminierung am kulturellen Leben seiner Gesellschaft teilzuhaben. Dieses Recht ist in den Allgemeinen Menschenrechten der Vereinten Nationen verbrieft. Die Menschenrechts-Charta vermeidet es aber, Kultur klar zu definieren, sondern begreift Kultur in einem holistischen Sinn. Das heisst, sie umfasst jegliche Formen von Kunst: Musik, Theater, Tanz, Malerei, Film, aber auch das Recht, sich in seiner Muttersprache auszudrücken, bis hin zur Forschungs-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit.
Birgt dieser weitgefasste Begriff nicht die Gefahr, kulturelle Rechte zu missbrauchen? So wird etwa gern behauptet, weibliche Genitalverstümmelung oder der Zwang, eine Burka zu tragen, gehörten zur Kultur der jeweiligen Bevölkerung und seien zu akzeptieren.
Damit sprechen Sie einen Knackpunkt an. Denn es ist tatsächlich missbräuchlich, das Argument «das ist unsere Kultur, also ist es auch unser Recht» anzuführen, um Diskriminierung oder Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Dies ist dann keine Ausübung kultureller Rechte, sondern ein Missbrauch eines kulturellen Anspruchs.
«Kulturelles Recht bedeutet, das Recht jedes Individuums, ohne Einschränkung
oder Diskriminierung am kulturellen Leben seiner Gesellschaft teilzuhaben.»
Bei der Ausübung kultureller Rechte geht es also auch um das Recht, kulturell verankerte Traditionen herauszufordern oder gar abzuschaffen?
Genau. Viele kulturelle Praktiken sind längst nicht mehr mit unserem Verständnis von Menschenwürde vereinbar. In Nepal zum Beispiel haben Frauen jahrelang gegen die Tradition gekämpft, menstruierende Frauen fernab ihrer Familien in Menstruationshütten zu isolieren. Eine Tradition, die Frauen stigmatisiert und vielen das Leben gekostet hat, weil sie in den Hütten erfroren oder erstickten wegen des Rauchs des Feuers, das sie zum Heizen oder Kochen benutzten. Mittlerweile sind Menstruationshütten gesetzlich verboten. Das Verbot wird zwar erst zögerlich umgesetzt, aber es ist den Aktivistinnen gelungen, das kulturell bedingte Stigma der Menstruation zu brechen und die Menstruation offen zu diskutieren. Das ist ein grosser Schritt.
In Ihrem neusten Bericht, den Sie jetzt im Oktober an der Generalversammlung der UNO vorstellen werden, schreiben Sie, dass der Klimawandel künftig eine der grössten Bedrohungen für die Ausübung kultureller Rechte ist. Weshalb?
Naturkatastrophen, gerade etwa Überschwemmungen, stellen für das kulturelle Erbe ganzer Nationen eine ungeheure Bedrohung dar (so haben zum Beispiel die ungewöhnlich starken Regenfälle, die im August über die jemenitische Hauptstadt Sana’a niedergingen, etliche Altstadthäuser zerstört, die zum UNESCO Weltkulturerbe gehören. Anm. der Redaktion). Zudem bedrohen sie die kulturelle Vielfalt. Ich habe auf meinen Missionen Tuvalu und die Malediven besucht, beides Inselstaaten, die existenziell von Überschwemmungen bedroht sind. Versinken die Inseln im Meer, werden auch ihre kulturellen Bauten, ihre Museen und ihre traditionellen Zeremonienplätze zerstört. Ein Tuvalu sagte mir: «Was wird mit uns und unserer Kultur, wenn es uns nicht mehr gibt?» Hier geht es also ganz konkret darum, was geschieht, wenn ganze Bevölkerungen verpflanzt werden müssen und mit ihnen ihre kulturelle Lebensweise.
Sie bezeichnen den Klimawandel als einen «threat multiplier», als einen Bedrohungsmultiplikator. Was meinen Sie damit?
Dass der Klimawandel den Kampf um Ressourcen verstärken und Menschen zur Migration zwingen wird. Das heisst, wir werden uns künftig mit Fragen zu menschlichem Überleben, Menschenrechten und damit auch mit kulturellen Rechten auseinandersetzen müssen. Wichtig ist jedoch, dass wir uns nicht nur auf diese Bedrohungen konzentrieren, sondern vielmehr auch darauf, wie wir unser kulturelles Wissen und unser Verständnis dafür einsetzen, um ihnen entgegenzuhalten.
Das führt uns zurück auf den Kulturbegriff im engeren Sinne, auf Kultur als künstlerischen Ausdruck. Hier im Westen scheint der Kunst keine Schranken gesetzt. Können wir uns also bequem zurücklehnen?
Nein, wir sehen noch immer grosse Herausforderungen. So leben etwa viele Kulturschaffende, auch in der Schweiz, im Präkariat, was ihre Schaffenskraft schmälert. Und in den USA, wo ein grosser Teil der Menschen keine Krankenversicherung hat, leiden viele Künstler unter gesundheitlichen Problemen, auch das hat negative Auswirkungen auf die kulturelle Vielfalt. Ein weiteres Problem ist die Gentrifizierung der Städte. In San Francisco zum Beispiel sind insbesondere schwarze Künstler aufgrund der Aufwertung ganzer Stadtteile gezwungen, in die Agglomeration zu ziehen, und verlieren so ihre Lebensgrundlage. Aus diesem Grund hat die afroamerikanische Künstlerin Ajuan Mance das Projekt Bay Area Heart and Soul gestartet, das betroffenen Künstlerinnen und Künstlern zu mehr Sichtbarkeit verhilft.
Nun gilt Kultur ausgerechnet in wohlhabenden Nationen eher als etwas Unwichtiges, das beliebig weggespart werden kann. Wie ist das zu erklären?
Ich denke, das hat mit einem mangelnden Wissen darüber zu tun, was Kultur eigentlich bedeutet. Dies ist auch eine Folge davon, dass an Schulen kulturelle Bildung vernachlässigt wird. Wenn Kinder aber keine Gelegenheit haben, zu erfahren, wie viele Facetten Kultur haben kann, wie sollen sie diese als Erwachsene wertschätzen können? Aus diesem Grund plädiere ich dafür, dass Kunst und Kultur schon an den Grundschulen wieder an Stellenwert gewinnen.
Gerade rechtskonservative politische Parteien scheinen Kunst und Kultur eher als überflüssig zu erachten, während Kulturförderung ein Anliegen der politischen Linken ist. Teilen Sie diese Beobachtung?
In der Tat ist das «de-funding of culture», also die Unterfinanzierung von Kultur, ein häufiges Markenzeichen rechtskonservativer Regierungen, sei es aufgrund von Sparmassnahmen oder einer autoritären Agenda. Ein ganz anderes Phänomen ist hingegen das «cultural engineering», dessen sich alle autoritären Regime, egal, ob links oder rechts, gern bedienen. Ich habe kürzlich Besorgnis darüber geäussert, was in Polen passiert. Der rechtskonservativen Regierungspartei PiS geht es nicht darum, Kultur loszuwerden, sondern sie so zu formen, dass sie ein homogenes Gefühl der polnischen Identität und eine vereinfachte Darstellung der Geschichte des Landes widerspiegelt. Folglich kürzt die Regierung jenen Kulturschaffenden die Subventionen, die die Staatsdoktrin kritisch hinterfragen. Dabei ist kultureller Dissens gerade das, was die Meinungsvielfalt einer Gesellschaft am Leben erhält.
Weltweit befinden sich Hunderte von Künstlern und Schriftstellerinnen in Haft, weil sie es gewagt haben, öffentlich ihre Meinung zu äussern. Einer der bekanntesten ist der saudische Blogger Raif Badawi, der nun seit acht Jahren in Haft sitzt.
Autoritäre Regime streben eine monolithische Vision davon an, was es bedeutet, eine Person in dieser Nation zu sein. Künstlerinnen und Künstler hingegen schaffen Raum für unterschiedliche Ideen und Bilder, eröffnen völlig neue Sichtweisen und fordern damit Dogmen heraus. Deshalb sind sie für autoritäre Regierungen eine Bedrohung. Raif Badawi ist ein Beispiel dafür. Ebenso Osman Kavala, der wichtigste Kulturmäzen der Türkei. Er unterstützt und betreibt unter anderem Kunstprojekte für Kurden und syrische Flüchtlingskinder und eine armenisch-türkische Kinoplattform. Zwei Jahre lang sass er im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten in Haft, diesen Februar wurde er freigesprochen, aber am Tag darauf gleich wieder verhaftet.
«Kunst kann für Menschen, die in repressiven Regimes leben, ein wichtiger Ort des Überlebens, des kulturellen Überlebens,
und eine Form des Widerstands sein»
Können Repressionen auch künstlerische Stimuli sein?
Ich würde es eher so sagen: Kunst kann für Menschen, die in repressiven Regimes leben, ein wichtiger Ort des Überlebens, des kulturellen Überlebens, und eine Form des Widerstands sein. Und das verleiht dem künstlerischen Ausdruck, aber auch dem Erleben und Wertschätzen von Kunst, eine zusätzliche Dringlichkeit. Ich denke da besonders an das Belarus Free Theatre, das in seinen Produktionen immer wieder Menschenrechtsverletzungen oder Verstösse gegen die soziale Gerechtigkeit thematisiert. Seit Künstler samt Publikum bei einer Vorstellung in Minsk verhaftet wurden, operiert das Theater nun sehr erfolgreich auch von London aus. Dabei nutzen die Macherinnen und Macher das Internet höchst kreativ, geprobt wird oft via Skype. Ich empfehle jedem, sich ihre Arbeit anzusehen.
Um gleich beim Thema zu bleiben: Immer wieder kommen Satiriker und Karikaturisten unter Beschuss, vor allem wenn sie religiöse Figuren wie Jesus oder Mohammed aufs Korn nehmen. Und fast reflexartig wird der Ruf nach Blasphemiegesetzen laut. Inwiefern haben Künstler das Recht, beleidigend zu sein?
Propheten oder andere religiöse Figuren zu karikieren, sich über Symbole lustig zu machen, die für Menschen wichtig oder gar heilig sind – all das liegt im Rahmen der Meinungsfreiheit und des kulturellen Dissens. Das müssen wir aushalten, auch wenn es wehtut. Werden Grenzen ausgereizt, werden wir herausgefordert, und das setzt kreative Denkprozesse in Gang. Blasphemiegesetze führen oft auch zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Denn in vielen Ländern, wie etwa in Pakistan, wird Gotteslästerung mit dem Tod bestraft. Das Recht auf Dissens hört dann auf, wenn kulturelle Ausdrucksformen dazu missbraucht werden, um gezielt Hass zu schüren. So bin ich etwa höchst beunruhigt über den Safran-Pop in Indien, der sehr populär ist. In den Songs und Musikvideos wird Hass auf die muslimische Minderheit geschürt, um die fundamentalistische Agenda der Hindus zu fördern.
In Ihrem Buch «Your Fatwa Doesn’t Apply Here» beschreiben Sie, wie muslimische Aktivistinnen und Aktivisten gegen den islamistischen Terror in ihren Ländern kämpfen. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Der Mut und die Hartnäckigkeit des inzwischen leider verstorbenen pakistanischen Festivalveranstalters Faizan Peerzada. Er leitete unter anderem das alljährliche World Performing Arts Festival in Lahore, das eine Plattform war für nationale wie internationale Künstler. Faizan Peerzada erhielt immer wieder Bombendrohungen, weil das Festival den pakistanischen Taliban ein Dorn im Auge war, und eines Abends explodierten, zeitlich versetzt, drei Sprengsätze. Die Schäden an Bühne und Beleuchtung waren gross, doch wie durch ein Wunder gab es keine Tote. Faizan musste entscheiden: Abbrechen oder weitermachen? Er hatte wahnsinnige Angst. Er wollte nicht riskieren, dass Menschen in einem weiteren Attentat verletzt oder umkommen würden.
Wie entschied er sich?
Weiterzumachen. Denn hätte er sich den Islamisten gebeugt, so sagte er, hätten sie immer die Oberhand behalten. Und das Schönste war: Trotz der Gefahr strömte das Publikum herbei. Auf die Frage, warum sie das Risiko eingehe, meinte eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern: «Ich war einst selbst mit meiner Mutter hier und von diesen Erinnerungen zehre ich heute noch.» Dies wollte sie nun auch ihren Kindern ermöglichen.
Ihr Vater war Professor für Anthropologie und übte Kritik an der algerischen Regierung wie auch an den Fundamentalisten, die in den 1990er-Jahren gegen den Staat kämpften. Dafür wurde er jahrelang mit dem Tod bedroht. Wie stark hat Sie das geprägt?
Die Morddrohungen haben in meiner ganzen Familie tiefe Spuren hinterlassen. Stellen Sie sich vor: Sie wissen morgens nie, ob Sie am Abend wieder nachhause kommen. Und das vier Jahre lang, sieben Tage pro Woche. Mein Vater war aber kein Einzelfall, das war die Situation der meisten algerischen Intellektuellen. Aber wie so viele andere gab auch mein Vater nicht auf: Er blieb in seinem Land, obwohl er sein Haus verlassen musste, schrieb weiter, zeichnete jeden Zeitungsartikel mit seinem Namen. Er hat mich inspiriert und zu der Menschenrechtsaktivistin gemacht, die ich heute bin.
Hand aufs Herz, wie gross ist das allgemeine Bewusstsein für kulturelle Rechte tatsächlich?
Erinnern Sie sich daran, wie US-Präsident Trump nach der Ermordung des iranischen Generals Qassim Soleimani der Führung in Teheran gedrohte hatte, im Fall von Vergeltungsschlägen 52 Kulturstätten im Iran zu zerstören? Das führte zu weltweiten Protesten, und unter dem Hashtag #IranianCultureSites posteten Iranerinnen und Iraner unzählige Bilder von kulturellen Bauten und Plätzen, die ihnen auch persönlich lieb und wichtig sind. Dies zeigt mir, wie stark das Bewusstsein für die Bedeutung kulturelle Rechte weltweit ist.
Ali Qapu Palace, Naqshe Jahan Square, #Isfahan#IranianCultureSites#IranianCulturalHeritage#NoWarWithlran pic.twitter.com/N0vjlE4UDb
— Chaskañawi (@gabu_houra) January 8, 2020
Klimawandel, Kriege, Konflikte, totalitäre Regime und nun auch das Corona-Virus. Trotz dieser düsteren Palette wirken Sie optimistisch. Oder täuscht das?
Gar nicht. Sehen Sie, der Klimawandel zwingt uns zu überlegen, wie wir Mittel und Wege finden, unser Verhältnis zur Natur neu zu definieren. Darin erkenne ich auch Chancen. Und wenn ich sehe, mit wie viel Kreativität Menschen auf der ganzen Welt auf die Pandemie reagieren, um einander zum Durchhalten zu ermutigen, dann stimmt mich das noch hoffnungsvoller. Sie alle produzieren Sauerstoff für unsere Seelen.