Politik
Willkommen bei den Malinewskischs: Ein Besuch in der ostukrainischen Kleinstadt Marinka
- Text: Andrea Jeska
- Bild: Stanislav Krupar
Die Kleinstadt Marinka liegt an der ostukrainischen Frontlinie, mitten im Konfliktgebiet. Niemand will hier leben – auch die Familie Malinewskisch nicht. Ein Besuch.
Dreihundert Meter sind es bis zur Haltestelle. Wenn die zehnjährige Sonja, die älteste von drei Töchtern der Familie Malinewskisch, am Morgen um sieben Uhr zum Schulbus geht, schweigen die Waffen noch. Erst wenn sie am Nachmittag zurückkommt, hört sie seit ein paar Wochen wieder das Dröhnen von Mörsergranaten und das Knattern der Gewehre.
Es kommt von beiden Seiten: der ukrainischen und den separatistischen Gebieten. An der Lautstärke kann Sonja die Entfernung einschätzen. Meist schlagen die Granaten nur auf den Feldern ein, ist das Rattern der Gewehre ein ferner Ton. Meist bleiben Sonjas Hände dann ruhig. Nur wenn die Erde unter ihren Füssen leicht bebt, weiss sie, die Einschläge sind nah. Dann flattern ihre Hände und sie muss ihre Beine zwingen, weiterzugehen.
Ein Krieg, der im westlichen Europa weitgehend vergessen ist
Marinka ist eine ukrainische Kleinstadt an der Frontlinie zwischen dem Osten der Ukraine und der selbsternannten separatistischen Volksrepublik Donezk. Das gesamte Gebiet, einst Mittelpunkt des Kohle- und Erzabbaus der Sowjetunion, wird das Donbass-Becken genannt. In diesem Becken spielt sich seit mehr als sieben Jahren ein Krieg ab, der im westlichen Europa weitgehend vergessen ist. 2014 nahmen separatistische und prorussische Gruppen die Regionen Donezk und Luhansk ein und erklärten sie für unabhängig. Einer der Anlässe war der nach Westen ausgerichtete Kurs der ukrainischen Regierung, den viele im Osten nicht mittragen wollten.
Die Bedrohung ist stets präsent
Schätzungsweise 13 000 Menschen sind in diesem Krieg bislang getötet, 1.3 Millionen vertrieben worden. Weil es nur noch selten zu offenen Kämpfen kommt und beide Seiten – die Separatist: innen, die von Moskau unterstützt werden, und die ukrainischen Bataillone – sich in ihr Netz aus Schützengräben zurückgezogen haben, wird der Kampf um die Ostukraine als eingefrorener Konflikt bezeichnet. Doch die Annahme, es reiche, einen Krieg nicht mehr Krieg zu nennen, um die Gewalt einzudämmen, erweist sich in Marinka und den anderen Städten und Dörfern entlang der 450 Kilometer langen Frontlinie als blinde Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. Denn die Bedrohung ist stets präsent – und so auch die Angst.
Sonja war vier Jahre alt, als der Krieg begann. Im Juni 2015 geriet Marinka unter Beschuss, den Separatist:innen gelang kurzfristig die Einnahme der Stadt, sie zerstörten das Spital und einige Wohnblöcke. Während der dreizehn Stunden dauernden Gefechte sass Sonja mit ihren Eltern im feuchtkalten Vorratskeller. Die Explosionen liessen auch dort die Wände zittern, die Vorratsgläser klirrten, von der Decke rieselte Erde. In jenen Stunden lernte sie, was kein Kind zu seinem Wissen zählen sollte: am Geräusch einzuschätzen, ob ein Geschoss nah oder weiter entfernt einschlägt.
Eine der letzten jungen Familien in Marinka
Die Malinewskischs sind eine der letzten jungen Familien in Marinka. Die Hälfte der Häuser im Dorf steht leer, weil die Bewohner:innen geflohen sind, in den anderen Häusern wohnen zumeist alte Leute. Die Malinewskischs bleiben nicht, weil sie es wollen, sondern, weil ihnen Mittel und Ressourcen fehlen, um fortzuziehen. Und weil sie an einen Gott glauben, der sie beschützt und ihnen die Kraft gibt, auszuhalten, was doch an manchen Tagen so unaushaltbar erscheint. Denn mit den ruhigeren Tagen ist es seit dem Frühjahr vorbei in Marinka.
An der Grenze zur Ukraine und auf der besetzten Krim stationierte die russische Regierung geschätzte 100 000 Soldat:innen und schwere Waffen. Auch im westlichen Europa war man alarmiert, sprach von einem neuen Krieg, ganz so, als sei der alte je zu Ende gegangen. Wenn Snjeschana, Sonjas Mutter, an so einem unaushaltbaren Tag mal wieder die Kinder packen und die Flucht ergreifen möchte, holt sie eine Hacke und drischt damit auf das Unkraut in ihren Gemüsebeeten ein: «Je härter die Arbeit, desto weniger muss ich denken.» Oder sie läuft im Schutz der bebauten Strassen im Viertel umher.
«Das hier ist kein Leben für die Kinder»
In ihrem Kopf ein Satz als Taktgeber: In Bewegung bleiben, in Bewegung bleiben, in Bewegung bleiben. An solchen Tagen streitet sie sich mit Artjem, Sonjas Vater. Artjem, ein stiller und verschlossener Mann, hat dem wenig entgegenzusetzen, ausser der Geduld, es auszuhalten. «Ich sage dann: Ich will hier sofort weg.» – «Du sagst es nicht, du schreist es.» – «Ich schreie, weil du Nein sagst.» – «Aber wie kann ich Ja sagen? Wir haben kein Geld, um woanders hinzugehen. Ich habe woanders keine Arbeit.» – «Ich weiss. Du tust mir ja auch leid, wenn ich so verzweifelt bin. Aber das hier ist kein Leben für die Kinder.» Die Pflicht von Eltern besteht darin, ihre Kinder vor Gefahren zu schützen. Was aber, wenn man der Gefahr nicht entkommen kann? Was, wenn der Krieg sich als endloser Konflikt in den Alltag frisst und wie Staub über Seelen und Zukunftspläne legt?
Mit ihren 31 Jahren ist Snjeschana eine junge Mutter für ihre Töchter: Sonja, die fünfjährige Sweta und die einjährige Nadja. Und jung sähe sie auch noch aus, stünden in ihrem Gesicht nicht die Spuren von Sorgen und Erschöpfung. Auch ihr Mann Artjem, der sechs Jahre älter ist als sie, hat etwas Jungenhaftes, das überdeckt wird von einem Ausdruck grosser Müdigkeit.
Das Paar lernte sich in der Kirche kennen. Beide waren kaum aus dem Teenageralter heraus, einen kommenden Krieg ahnte damals niemand und so blieb ihnen ein wenig Zeit für Träume von einem guten Leben. Die Malinewskischs gehören der protestantischen Minderheit in der mehrheitlich orthodoxen Ostukraine an. Ihr Vertrauen in Gott ist so gross, dass es alles Leid der vergangenen sieben Jahre überdauert hat. Wer die Malinewskischs kennenlernt, der begegnet einer zumeist fröhlichen Familie. Einer, wie sie auch in Bern oder Herisau leben könnte. Ein bisschen chaotisch, ein bisschen alternativ.
Immer ein offenes Haus für alle, die vorbeikommen, Freund:innen, Nachbar:innen oder – wie in unserem Fall – Journalist:innen. Zwei Generationen unter zwei Dächern auf einem Grundstück. Artjem und Snjeschana haben das kleinere Haus, weshalb sich das Leben im Haus von Artjems Eltern abspielt; dem 66-jährigen Sascha und der sehr resoluten 65-jährigen Raja, die die Gäste stets mit einem «Willkommen bei den Malinewskischs» begrüsst. In der Küche steht ein Tisch, an den immer noch ein weiterer Stuhl passt, und der Teekessel köchelt unermüdlich.
«Krieg verändert deine Werte, weil du verstehst, wie fragil alles ist»
Dass es bei den Malinewskischs meist fröhlich zugeht, liegt auch an ihrem Humor. Da wird gewitzelt über die Scharfschützen auf der anderen Seite und wie einem in Marinka der Rücken krumm wächst, weil man immer gebückt gehen muss. «Niemand kann über so viele Jahre immer nur sorgenvoll sein», sagt Snjeschana. Natürlich gebe es Alltag und Freundschaften. «Wir treffen uns, wir kochen zusammen, wir reden über die Kinder und unsere Ehen. So, wie es Menschen wohl überall auf der Welt tun.» Vor allem aber gebe es die Familie. «Krieg verändert deine Werte, weil du verstehst, wie fragil alles ist. Dass alle am Leben und gesund sind, wird das Allerwichtigste.»
Sechzig Kilometer von der Frontlinie entfernt, in der Bergbaustadt Pokrowsk, sitzen in einem unscheinbaren Rotziegelgebäude jene, die keinen Halt in ihren Familien finden und denen auch kein Gottesglaube gegen den schleichenden Zermürbungsprozess hilft. Im Gebäude hat die ukrainische Organisation Psychosozialer Krisendienst ihre Therapieräume, werden «Opfer des Konflikts» von Therapeut:innen betreut. Der Krisendienst ist die Partnerorganisation der ukrainischen und internationalen Malteser. «Zu uns kommen Kinder mit Albträumen und Panikattacken, Soldat:innen mit posttraumatischen Belastungen, Menschen mit Suizidgedanken und schweren Depressionen», erklärt die Leiterin des Zentrums Viktoria Solowyova.
Kurve der häuslichen Gewalt und des sexuellen Missbrauchs sei angestiegen
Es sind zumeist Frauen, Mütter, die dort nach Hilfe suchen. Die Kurve der häuslichen Gewalt und auch des sexuellen Missbrauchs sei seit Beginn des Krieges angestiegen, sagt Solowyova. Dazu kämen Alkohol, Drogen- und Spielsucht, Arbeitslosigkeit, Armut. «Wir kümmern uns hier um ein ganzes Bündel an emotionalen Belastungen. Therapie allein hilft nicht, wenn nicht auch die realen Probleme wie Geldmangel, Wohnungsnot oder Verlust von Identitätsgefühl angegangen werden.» Wenn gar nichts mehr gegen die häusliche Gewalt helfe, sorge man dafür, dass Frauen und Kinder in ein Frauenhaus kämen.
Als der psychosoziale Dienst im Jahr 2017 eingerichtet wurde, war die Hemmschwelle, ihn zu nutzen, hoch. Zu frisch noch war die Erinnerung daran, dass Menschen mit psychischen Problemen in der Sowjetunion in Lager gebracht, in Anstalten gesperrt wurden. Und zu gross die gesellschaftlichen Zwänge: Seine Probleme macht man in der Familie aus. Doch jetzt, vier Jahre später, gibt es mehr Anfragen als Kapazität. 600 Menschen haben sich bislang dort einer Therapie unterzogen.
«Die Aussichtlosigkeit dieses Konflikts ist das Schlimmste»
«Die Aussichtlosigkeit dieses Konflikts ist das Schlimmste. Die Menschen sind müde, lethargisch und ohne Perspektive», sagt Solowyova. Die meisten Hilfesuchenden seien in einer endlosen Spirale aus negativen Gedanken gefangen. Ihnen bringe man Atemtechniken, Entspannungsübungen und Methoden bei, aus dem Gedankenkarussell auszusteigen. «89 Prozent unserer Patient:innen fühlen sich nach drei Monaten in der Lage, wieder im Alltag zu bestehen und ihre Probleme zu lösen», so Solowyova. «Die anderen überweisen wir weiter an Psychotherapeut:innen.»
Die Geschichten über den Krieg und über Menschen im Dorf, die starben, über Minen, auf die jemand trat, und Kugeln, die Männer, Frauen und Kinder mitten auf der Dorfstrasse töteten, werden in Marinka in jedem Haus erzählt. Sie bestimmen die Identität der Stadt, sie verorten sie in der Geschichte dieses Kriegs. Niemand schickt die Kinder dabei aus dem Zimmer und so müssen sie sich ihre sicheren Räume selber suchen.
Tanzvideos und Schminktipps zur Ablenkung
Sonjas Eltern haben ihr ein Smartphone geschenkt und einen Handyvertrag ohne Limiten. Seither flüchtet sich Sonja in die Welt von Tik Tok, folgt russischen Bloggerinnen, imitiert Tanzvideos und schaut sich Schminktipps an, wenn die Erwachsenen wieder von der Gewalt sprechen. «Es lenkt sie ab», sagt Snjeschana. «Und das ist doch gut.» Vor einigen Monaten wurde Sonjas bester Freund beim Spielen auf der Strasse von einer Kugel getroffen. Er trug grüne Kleidung und womöglich hielten ihn die Scharfschützen für einen Soldaten. Der Junge überlebte, aber Snjeschana warf jedes grüne Kleidungsstück weg, beschränkte den Bewegungsradius ihrer Töchter auf den Garten.
Täglich gibt es nun wieder Spekulationen darüber, ob der Krieg erneut mit ganzer Gewalt ausbrechen wird. Auch im Haus der Malinewskischs ist das ein präsentes Thema, das nicht ohne ideologische Konflikte debattiert wird. Sascha, der Grossvater, gibt die Schuld am Krieg der ukrainischen Regierung und findet, in der Sowjetunion sei alles besser gewesen, Artjem rollt dazu mit den Augen. Meist sind es die Kinder, die solche Diskussionen beenden.
Sweta, der Wildfang der Familie, weil sie mal wieder über Tische und Bänke tobt. Nadja, die Kleine, weil sie kreischend hinter der Katze her kriecht. Oder Sonja, weil sie den neusten Trend bei Tik Tok zeigen will. «Genau, jetzt reicht es», sagt Raja in ihrer resoluten Art. Und dann gehen sie alle in den Garten und schauen, ob der Rucola gewachsen ist oder die Schnecken ihn gefressen haben. Dann denkt Snjeschana wieder, vielleicht sei es doch besser, gemeinsam mit der ganzen Familie in Sorge zu leben, als mit halber Familie in Sicherheit.