Corina Durrer, Pflegefachfrau und Mutter aus dem Kanton Glarus, erzählt, wie es ist, zwei Suizidversuche zu überleben.
Mit 16 Jahren begann sich mein Leben zu verdunkeln. Erst schleichend, dann immer schneller. Warum? Ich weiss es nicht. – Meine Eltern führten ein Metzgereigeschäft. Ich glaube nicht, dass der Laden jemals geschlossen war, ausser sonntags. Zeit für mehr als einen Schwatz hatten sie für niemanden. Auch nicht für uns Kinder: Es könnte ja Unangenehmes zur Sprache kommen. Natürlich sorgten sich meine Eltern, als ich mit 17 auszog. Die KV-Lehre abbrach. Mich von einem Freund zum nächsten rettete. Doch sie bewahrten den Schein: Ja, alles in Ordnung, Frau Müller, den Kindern gehts gut, Frau Moser.
Auf Drängen meines Freunds begann ich eine Psychotherapie. Die Ärztin verschrieb mir starke Neuroleptika. Nachts lag ich wach, tagsüber war mir alles gleich. Eines Abends schluckte ich alle Pillen. Ein erster Hilfeschrei, ohne die Entschlossenheit, wirklich sterben zu wollen. Man pumpte mir den Magen aus. Man steckte mich in eine Nervenklinik. Man liess mich Aschenbecher töpfern, Aquarelle pinseln. Man gab mir andere Medikamente, versuchte neue Therapien. Nach sechs Monaten wurde ich entlassen. Ich war ein aufgedunsenes, apathisches Wrack und hatte zwanzig Kilo zugenommen. Ich schämte mich vor meinen Freunden, meinen Eltern, meinen Geschwistern. Doch ich schämte mich vor allem vor mir selbst.
Peter lernte ich an der Fasnacht im Dorfpub kennen. Ich sagte ihm, dass es zwecklos sei. Er lachte. Ich erzählte ihm meine Geschichte. Er versprach, mich glücklich zu machen. Ich glaubte ihm nicht.Am Morgen meines zweiten Suizidversuchs war mein Kopf schon wieder voller wirrer Stimmen gewesen. Er hatte sich angefühlt wie ein Dampfkochtopf kurz vor der Explosion. Und plötzlich war mir klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte.
Ich hatte meinen ganzen Vorrat eingepackt: Benzodiazepine, Antidepressiva, Antiepileptika. Hundert Tabletten. Dann war ich zur Arbeit gegangen. Ich war entspannt vor dem Kaffeeautomaten im Pflegeheim gestanden und hatte zugesehen, wie der Plastikbecher in die Halterung fiel. So geil, hatte ich gedacht, das mache ich nun alles zum letzten Mal. In der Umkleidekabine hatte ich erst die Hälfte der Pillen, dann den Rest geschluckt. Dann war ich in Panik geraten, als ich an die Menschen dachte, die mich finden würden. Wie meine Eltern: keinem zur Last fallen, auch nicht tot. Dann war ich zusammengebrochen.
Als die Intensivstation anrief, feierte meine jüngere Schwester zuhause gerade ihren 14. Geburtstag. Freundinnen waren da, ihre Gotte, meine Grossmutter. Es gehe um Leben und Tod, erklärten die Ärzte meinem Vater. Und meine Eltern taten, was sie immer taten: Sie bewahrten den Schein. Die Geburtstagsfeier wurde nicht abgebrochen, das Geschäft wurde nicht geschlossen, die Kunden wurden nicht auf morgen vertröstet. Nach Feierabend rasten meine Eltern ins Spital. Vermutlich hatte meine Mutter vorher noch den Laden geputzt.
Ich war drei Tage im Koma gelegen. Als ich aufwachte, sagte man mir, es sei ein Glück, dass ich noch lebe. Für mich war es eine Katastrophe. Wieder wurde ich in eine Klinik gesteckt. Wieder knetete ich Aschenbecher. Wieder bekam ich Medikamente, die mich stumpf und taub machten. Ich liess es über mich ergehen. Sechs lange Monate. Nach der Entlassung begann ich zu kämpfen. Ich sagte mir, dass ich tiefer nicht mehr fallen könne. Ich setzte die Medikamente ab. Mein Körper rebellierte, aber die Stimmen im Kopf wurden leiser. Mit der Trauer kehrte die Freude in mein Leben zurück, mit der Verzweiflung das Glück.
Drei Jahre später heiratete ich Peter. Wir gründeten eine Familie, und ich holte eine Berufsausbildung als Pflegefachfrau nach. Es gibt sie noch, die Tage, an denen mich die Schwermut umschleicht. Doch die Todessehnsucht ist verschwunden. Ich bin heute eine lebensfrohe Frau, die eine dunkle Seite in sich trägt. Und immer tragen wird.
* Name geändert