Zeitgeist
Wie ist es eigentlich, zehn Tage meditierend zu verbringen?
- Text: Lida Marinkova
- Symbolbild: Stocksy
Lida Marinkova (35) aus Zürich ging bei einer buddhistischen Meditation im Süden Indiens zehn Tage lang auf eine innere Reise. Uns erzählte die Kunstschaffende, was daran die grösste Herausforderung war – und wie die Erfahrung sie veränderte.
«Zu Beginn der buddhistischen Meditation im Süden Indiens, an der ich teilgenommen habe, gibt man alle Wertsachen ab, inklusive Pass, und verpflichtet sich zu einer strikten moralischen Handlungsweise: kein Lügen, kein Töten jeglicher Lebewesen, kein Stehlen, keine Suchtmittel, kein Sex.
Vipassana, so heisst diese Meditation in der altindischen Sprache Pali, bedeutet Einsicht. Man geht auf eine Reise in sich. Und die bedingt auch keinen Aussenkontakt, kein Handy, keine Bücher, keine Gespräche – zehn Tage lang.
Wie eine warme Umarmung
Der Tag startete um 4 Uhr morgens mit einem Gong, gefolgt von der Morgenmeditation um 4.30 Uhr, Frühstück um 6.30 Uhr, danach eine kurze Erholungspause. Um 11 Uhr gabs die letzte Mahlzeit, am Abend nur Tee. Der Tag endete um 21 Uhr mit Erörterungen von S. N. Goenka, dem führenden Vipassana-Lehrer.
Ich weiss nicht, ob es seine Worte oder sein Singen waren – oder der Umstand, dass ich den ganzen Tag kein Wort von einem anderen Menschen vernommen hatte –, aber diese Abendsessions fühlten sich wie eine warme Umarmung an.
Die ersten Tage waren besonders hart. Alles, was man zunächst tun soll, ist, seinen eigenen Atem zu beobachten. Ich war überrascht, wie schwer es mir fiel, dabei konzentriert zu bleiben. Ich dachte ständig daran, meine Sachen zu packen und einfach zu verschwinden. Ich hatte das Gefühl, langsam meinen Verstand zu verlieren. Dabei begann die eigentliche Praxis des Vipassanas, das sogenannte Adhi h na, erst am vierten Tag.
«Ich dachte mit Tränen im Gesicht, dass ich das nie überleben würde. Der Schmerz, den ich verspürte, war unerträglich»
Das Vipassana umfasst eine einstündige ‹harte› Meditationssitzung dreimal täglich, morgens, mittags und abends. ‹Hart›, weil man sich während des Meditierens nicht bewegen darf. Man nimmt bloss seine Körperempfindungen wahr. Regungslos. Sitzend. Kein physisches Training, kein Stretching.
Ich dachte mit Tränen im Gesicht, dass ich das nie überleben würde. Der Schmerz, den ich verspürte, war unerträglich. Aber Tag für Tag wurde es einfacher und irgendwann verwandelte sich dieser Schmerz in ein Glücksgefühl.
Die Stille, die Einfachheit, die Präsenz. Mir wurde klar, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt in der Zukunft oder Vergangenheit gefangen gewesen war. Ein Jetzt hatte es kaum gegeben. Täglich verbrachten wir insgesamt zehn Stunden in der Meditationshalle. Am zehnten Tag wurde das Schweigen gebrochen, wir bereiteten uns langsam wieder auf den Lärm der Welt vor.
Alles intensiver
Die Rückkehr in die Normalität war nicht einfach, aber schön. Ich nahm alles intensiver wahr. Das erste ausgiebige Essen, die Gerüche, das erste Lachen, die erste Umarmung.
Blicke ich zurück, merke ich, dass weder die Stille noch das wenige Essen, der Mangel an Komfort und Schlaf oder die Abgelegenheit dieses Ortes das Schwierigste waren. Herausfordernd war, mit mir selbst klarzukommen. Heute lebe ich bewusster. Ich bin klarer in meinen Gedanken und Handlungen. Ich nehme meine Umgebung, ja mein komplettes Dasein, anders wahr. Ich weiss, was ich möchte, und schätze die einfachen Dinge und vor allem die Ruhe in unserer so lauten Welt. Und wenn ich sie nicht finde, nehme ich sie mir bewusst.»
Lida Marinkova (35) ist Kunstschaffende und lebt in Zürich.