Leben
Wie ist es eigentlich, wenn einem im Gotthard der Most ausgeht?
- Aufgezeichnet von Christoph Kohler; Foto: SXC
Ben Liechti (29), Historiker aus Zürich, erzählt.
Es gab 267 Pannen letztes Jahr im Gotthard-Strassentunnel, 23 wegen Treibstoffmangel. Eine davon geht auf mein Konto. Es war Freitag- abend, einen Tag nach meinem 28. Geburtstag, mein Kumpel und ich waren ziemlich verkatert. Egal. Die Tessiner Sonne versprach, uns aufzupäppeln. Also fuhren wir, rauchten und hörten Gangster-Rap. Ich denke, alles in allem fühlten wir uns echt grossartig.
Es war nicht so, dass wir die letzte Tankstelle vor dem Tunnel übersehen hätten. Wir dachten nur, zur nächsten seis nicht weit, die kommt ja gleich nach der Tunnelausfahrt. Nur: Von der Gotthard-Raststätte geht es noch einmal über zwanzig Kilometer bis zum eigentlichen Gotthard! Kein Klacks für meinen alten Renault Express, Typ Gemüsehändlerauto. Hätte die Raststätte nicht Gotthard-, sondern Erstfeld-Raststätte geheissen, wären wir auf jeden Fall vorsichtiger gewesen.
Aber vielleicht war es auch schlicht fehlender Respekt vor dem 17 Kilometer langen Ungetüm. Ganz einfach durch die routinemässigen Fahrten von Zürich in die Sonnenstube der Schweiz. Als Kind hatte ich noch gehörig Ehrfurcht vor dem Gotthardtunnel. Mein Vater pflegte die Sommerferien mit mir, meinem Bruder und seinem Mazda in Italien zu verbringen. Auf der Fahrt fieberten wir Buben immer demselben magischen Moment entgegen: der Einfahrt in die Röhre.
Der Gotthardtunnel war der emotionale Höhepunkt der langen Reise und erfüllte uns mit Stolz und Ehrfurcht. Mit Stolz, weil mein Bruder und ich als Auslandschweizer auf den deutschen Schulhöfen gern mit den Errungenschaften der Schweiz prahlten. Ehrfurcht hatten wir vor der Länge und Tiefe des Tunnels, vor seiner düsteren Eintönigkeit, der abgasschwangeren Luft und der schwülen Hitze, die im Innern der Höhle herrschte. Die zunehmende Hitze erklärte der Vater jeweils mit dem glühenden Kern im Inneren der Erde, dem wir entgegenfuhren. Was für eine Vorstellung: den Erdkern streifen und morgen Pizza essen am Strand von San Vincenzo!
Jedenfalls erreichten mein Kumpel und ich an jenem Freitagabend den Tunnel, obwohl das Warnlämpchen da schon seit zwanzig Minuten gelb leuchtete; immer gelber sogar, wie ich fand. Dann waren wir mittendrin. Den frivolen Rappern im Kassettenrecorder verpasste ich eine Ruhepause, um den Vitalzeichen des Motors zu lauschen. Bei welcher Geschwindigkeit ist die Energieeffizienz eines Automobils eigentlich am grössten?
Dann war er da, der Moment: Ich drückte aufs Gaspedal, aber nichts passierte. Jagdinstinkt. Tunnelblick. Weiter vorne tauchte eine Abstellnische auf – dummerweise auf der anderen Fahrbahnseite. Gegenverkehr? Nein! Ich riss das Steuerrad herum, überrollte die doppelt durchgezogene Linie und rettete uns in die Nische. Ein Zürcher donnerte hupend an uns vorbei. Dann war es still. Gespenstisch still.
Ich öffnete die Autotür. Atmete die schwere Luft. Dachte an die tausend Meter Gneis über mir. Und fand mich klein und dumm! An der Decke entdeckte ich eine Kamera. Irgendwo da draussen sass ein Kontrollmensch und schaute mir zu, wie ich mir zuerst eine Zigarette anzündete und schliesslich den Pannendienst rief. Zurück im Auto; ein Lachanfall. Dann hielt mir mein Freund unvermittelt ein Päckchen entgegen. «Das ist genau der richtige Moment für dein Geburtstagsgeschenk», sagte er. Es war ein Backgammonspiel im Taschenformat. Also spielten wir Tunnelbackgammon, bis nach einer Stunde Benzin kam. 10 Liter für 140 Franken. Danach manövrierte ich uns ein zweites Mal über die durchgezogene Linie, eine gute Stunde später waren wir in Brione.
Wieder zuhause, erkundigte ich mich vorsorglich nach meinem Vergehen: das Führen eines Fahrzeugs in nichtbetriebssicherem Zustand. Meine Übertretung: das Überfahren der Sicherheitslinie. Voraussichtliche Busse: 1450 Franken plus zwanzig Tagessätze. Das wären dann meine Frühlingsferien gewesen, dachte ich. Doch die befürchtete Post kam nie. Bis heute nicht.