Wie ist es eigentlich, sieben Tage in der Dunkelheit zu leben?
- Text: annabelle
- Bild: Stocksy
Der Schweizer Unternehmer und Comedian Robin Pickis verbrachte eine Woche in einem Dunkelheit-Retreat. Er erzählt von Träumen, Berührungen, Erinnerungen und der Intensivität des Nicht-Sehens.
«Du spinnst!», «Das ist doch Folter.» Mit den zweifelnden Stimmen meiner Freunde und Kolleginnen in den Ohren blies ich die Kerze aus. Inspiriert von einem Podcast und dem Wunsch nach Selbsterkenntnis, sass ich nun in einem sogenannten Dunkel-Retreat. Ein solcher Rückzug wird von verschiedenen spirituellen Gemeinschaften seit Jahrhunderten praktiziert. Einst in einer Erdhöhle. In meinem Fall nun in einem dunklen Zimmer mit Bett, WC und Dusche in Appenzell Ausserrhoden.
Plötzlich war sie da, die Dunkelheit. Tiefer als alles, was ich je zuvor erlebt hatte. Ein endloser, allumfassender Raum. Darin war jede Bewegung eine Übung in Achtsamkeit: Schritt für Schritt, mit ausgestreckten Armen, halb torkelnd, bis meine Finger die Wand berührten. Manchmal auch, nicht ganz so sanft, mein Schienbein die Bettkante. Es gab keine Ablenkungen mehr, nur ich und meine Gedanken. Liegend, sitzend, stehend und immer mit Blick in die unendliche Weite des Nichts.
«Die Dunkelheit lehrte mich, einfach mal nichts tun zu müssen, immer mehr zu schätzen»
Neben Meditation und Workouts füllte ich die Zeit mit ausgiebigem Nachdenken, Tagträumen und, was sich als besonders wertvoll herausstellte, dem Lauschen meiner inneren Stimme, die plötzlich hörbar wurde. Anfangs war alles daran herausfordernd. Mein überstrukturiertes Gehirn versuchte krampfhaft, mein Dasein im Dunkeln zu managen: «Soll ich zuerst meditieren, dann ein Workout machen und dann duschen oder andersrum?» Die Dunkelheit lehrte mich, einfach mal nichts tun zu müssen, immer mehr zu schätzen.
Aus der anfänglichen Langeweile entwickelte ich eine Faszination für vermeintlich banale Dinge wie zum Beispiel unter der Dusche zu fühlen, wie das Wasser in verschiedenen Bahnen über meinen Körper läuft, je nachdem in welchem Winkel ich zur Brause stehe. Auch Essen wurde durch weitere Dimensionen der Wahrnehmung angereichert: Die Mahlzeit, die mir zweimal täglich vor die Tür gestellt wurde, war ein Erlebnis. Jeder Bissen wurde zu einer kleinen Entdeckungsreise. Plötzlich spürte ich das Salz im Porridge. Und, woah, Zimt?
«Tagsüber fühlte es sich an, als sässe ich im Kino meines eigenen Lebens»
Und dann waren da meine Träume. Drei bis viermal pro Nacht und viel klarer, realistischer und intensiver. Als würde mein Unterbewusstsein den fehlenden visuellen Input kompensieren, wurden kleine Gedankenfetzen von tagsüber nachts zu einem Blockbuster. Am Tag konnte ich in die Träume der Nacht zurückkehren und die Geschichten weiterspinnen.
Tagsüber fühlte es sich an, als sässe ich im Kino meines eigenen Lebens. Ich hatte Zugriff auf eine persönliche Mediathek all meiner Erinnerungen. Jede einzelne stand nach Alter kategorisiert in einem Regal. Auf einmal war ich wieder sechzehn und täuschte im Gymi am ersten April meinem Geschichtslehrer Übelkeit vor. Die Klasse brach in Gelächter aus. Dieses Gefühl, gefeiert zu werden, es durchflutete mich wieder, allein, in der Dunkelheit.
Der Kontrast der absoluten Dunkelheit und meiner extrem angeregten Innenwelt waren das Spannendste, was ich jemals erfahren durfte. Angst hatte ich nie. Als ich schliesslich nach sieben Tagen wieder ans Licht kam, fühlte es sich an, als würde mich jemand aus meiner Traumwelt führen. Das Licht, es war gleissend hell. Ich brauchte eine Sonnenbrille – draussen, drinnen und sogar nachts.
Robin Pickis, Unternehmer und Comedian