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Wie ist es eigentlich sich blind zu verlieben?

Leben

Wie ist es eigentlich sich blind zu verlieben?

Elisabeth Sinstadt erzählt, wie es ist, sich als blinde Frau zu verlieben.

Ich kann ihm nicht einfach zuzwinkern, dem netten Mann mit der schönen Stimme, ich sehe auch nicht, ob er einen Ehering trägt. Und während sich andere mit ihren Blicken gegenseitig ausziehen, kann ich nicht mal eben einem fremden Mann die Hand aufs Knie legen. Die entsetzten Blicke, die ich dafür ernten würde, kann ich mir vorstellen. Ich bin von Geburt an blind und habe Schwierigkeiten, mein Liebesglück zu finden.

In meinem Elternhaus war Sex ein Tabu, und im Internat, das ich ab meinem siebten Lebensjahr besuchte, stand Aufklärung nicht im Stundenplan. Meine Schwestern konnten sich ihr Wissen aus Heftli holen, oder sie sahen vielleicht mal eine Sexszene im Fernsehen. Aber geredet wurde nicht über Sex, als blindes Mädchen war ich damit aus dem Kreis der Wissenden ausgeschlossen.

Das erste Mal verliebte ich mich mit 17. Gerhard war verheiratet, ich aber trotzdem im siebten Himmel. Er war mein Tanzlehrer. Wir sind im Dreivierteltakt über die Tanzfläche geschwebt. Ich habe mich göttlich gefühlt. Gut möglich, dass ich rote Socken trug, dazu blaue Schuhe und einen gelben Pulli, aber in meiner Vorstellung habe ich gut ausgesehen.

Heute hilft mir eine Farbberaterin beim Kleiderkauf. Mir ist es wahnsinnig wichtig, gut gekleidet zu sein. Ich bin ein visueller Typ, auch wenn das komisch klingen mag. Geschminkt habe ich mich zwar noch nie. Ich sehe ja nicht, wo ich den Lidstrich hinmale, und möchte nicht wie ein Clown herumlaufen. Vor einem Date ziehe ich mir aber etwas Schönes an und lege Parfum auf. Süsse Düfte gehen gar nicht. Auch bei den Farben bin ich wählerisch. Braun stell ich mir furchtbar vor, obwohl auch Rehe braun sind, und die gelten als schöne Tiere. Allerdings sind sie nicht vollkommen braun, sondern gesprenkelt – soviel ich weiss. Obwohl ich nichts sehe, habe ich eine Vorstellung von Schönheit. Wenn ich am Busbahnhof stehe und höre, wie eine junge Frau mit Quietschstimme redet, und mir der Geruch ihres billigen Parfums und der Qualm ihrer Zigarette in die Nase strömt, finde ich sie einfach nur unattraktiv.

Wenn andere über sexy Stars reden, kann ich mir darunter nichts vorstellen. David Beckham, George Clooney, so what? Aber in meinem Kopf gibt es das Bild von einem Mr. Perfect. Mr. Perfect ist grösser als ich, raucht nicht, hat keinen Schnauz und auch nicht zu viel Brustbehaarung. Mr. Perfect ist auch kein Glatzkopf und nicht dick. Und er ist gepflegt.

Doch wie erkenne ich meinen Mr. Perfect? Ich kann ihm ja nicht beim ersten Treffen über Brust und Kopf fahren. Ich könnte ihm allenfalls über die Hand streichen, um zu erkennen, ob sie angenehm glatt oder fettig ist. Sein Geruch verrät mir, wie gepflegt er ist. Fruchtig-herb soll er riechen oder nach Aftershave.

Aber bevor ich einen Mann anfassen kann, muss er mich mit Worten überzeugen. Schönheit hat auch damit zu tun, ob jemand interessant ist und von innen strahlt. Darum war es mir auch egal, als eine Bekannte mir verriet, dass mein damaliger Mann keine Schönheit war.

Ich war zwanzig, als ich ihn kennen lernte. Ich war für einen Sprachaufenthalt in England, er gab mir Nachhilfe. Ich liebte es, wenn er mir vorlas, so flüssig und intensiv. Er zog mich sofort in seinen Bann. Auch ich kann mich auf den sogenannten ersten Blick verlieben. Schmetterlinge im Bauch haben schliesslich nichts mit Sehen zu tun. Die können schon nach ein paar Worten fliegen. Heute haben wir zwei gemeinsame Kinder, leben aber getrennt.

Als blinde Frau hat man auch Vorteile. Eifersucht spielt zum Beispiel keine so grosse Rolle. Andere werden ja schon eifersüchtig, wenn sich der Mann auf der Strasse nach einer schönen Frau umdreht. Ich sehe das nicht, und das ist gut so. Ausserdem schränken mich die visuellen Kriterien weniger ein. So kommen für mich eigentlich viel mehr Männer infrage.

Zurzeit bin ich Single. Ich suche nicht verkrampft nach meinem Liebesglück. Liebe ergibt sich doch oft durch Zufall. Und sie kann überall hinfallen, sagt man. Vielleicht bin ich ja in zehn Jahren mit einem rauchenden, glatzköpfigen Mann zusammen, der mich mit seinem Schnauz kitzelt.