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Wie ist es eigentlich, mit dem Trinken aufzuhören?

Zeitgeist

Wie ist es eigentlich, mit dem Trinken aufzuhören?

  • Bild: Stocksy

Aline Müller (42) aus Luzern fühlte sich mit Alkohol als die Mutter, Freundin und Gesprächspartnerin, die sie sein wollte. Vor drei Jahren gab sie das Trinken von einem auf den anderen Tag auf.

Eigentlich wusste ich schon länger, dass ich ein Alkoholproblem habe. Beim Kochen mal schnell zwei, drei Gläser Wein zu leeren – kein Problem. War ich zum Essen eingeladen, hatte ich immer eine Flasche im Gepäck, in der Hoffnung, dass wir sie an dem Abend noch trinken würden, im Ausgang steckte stets mein Flachmann in der Tasche.

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«Als mir bewusst wurde, dass ich mein Kind besser aushalte, wenn ich Alkohol intus habe, wusste ich: Ich muss etwas ändern»

Mit Alkohol war ich die Mutter, Freundin oder Gesprächspartnerin, die ich sein wollte. Ich hatte mehr Geduld, konnte mich auf andere einlassen. Von Donnerstag bis Sonntag war Alkohol mein sicherer Begleiter. Ich freute mich schon morgens auf den Apéro, dachte immerzu ans Trinken. Für mich machten die Menschen sofort den Prosecco auf, wenn ich zu Besuch kam. Es war klar, dass ich trinke.

Mein Badezimmerschrank war voller Medikamente: Schmerzmittel, Magenschoner, Elektrolyte gegen den Kater. Ich wusste genau Bescheid, wie man welche Nebenwirkung des Trinkens behandeln kann. Und trotzdem redete ich mir ein, alles im Griff zu haben. Ich ging ja zur Arbeit in den Coiffeursalon, kümmerte mich um meine Tochter. Als mir eines Tages bewusst wurde, dass ich mein Kind besser aushalte, wenn ich Alkohol intus habe, wusste ich: Ich muss etwas ändern.

Ich hörte von einem Tag auf den anderen auf zu trinken. Das war vor drei Jahren. Seither trank ich keinen Schluck mehr. Anfangs habe ich mich exzessiv mit Nahrungsergänzungsmitteln beschäftigt. Morgens eine Pflanzentinktur, die mir Energie gibt, abends eine zum Entspannen. Heute brauche ich das nicht mehr als Ersatzbefriedigung.

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«Etliche Bekannte fühlen sich von meiner Abstinenz provoziert»

Mein Leben hat sich nüchtern massiv verändert. Mein Freundeskreis ist nicht mehr derselbe. Ich habe gemerkt, dass mich mit vielen Leuten nur das Trinken verbunden hat. Zwar habe ich versucht, die Freundschaften weiterhin zu pflegen, aber ein Gespräch ist einfach nicht dasselbe, wenn einer von beiden im Laufe des Abends immer betrunkener wird.

Etliche Bekannte fühlen sich von meiner Abstinenz provoziert. Sie sagen, dass es bei mir mit dem Trinken ja viel schlimmer war als bei ihnen und wie gut sie es finden, dass ich etwas dagegen unternommen habe. Dabei will sich nur niemand eingestehen, das gleiche Problem zu haben. Meistens stecke ich das gut weg, aber manchmal macht es mich auch wütend. Denn heute erkenne ich, wie viele unglückliche Menschen ihre Sorgen und Unsicherheiten mit Alkohol wegspülen. Unsere Gesellschaft akzeptiert das.

«Seitdem ich entschieden habe, nüchtern zu bleiben, fühle ich mich das erste Mal im Leben richtig fit»

Seitdem ich entschieden habe, nüchtern zu bleiben, fühle ich mich das erste Mal im Leben richtig fit. Die ständige Erschöpfung ist weg, ich schlafe gut und treibe Sport. Für die Sonntage musste ich mir ganz neue Beschäftigungen suchen, weil ich den Tag nicht mehr für meinen Hangover brauche. Jetzt backe ich oft mit meiner Tochter oder wir unternehmen etwas, was ich sehr geniesse.

Vor einem Jahr habe ich eine ADHS-Diagnose erhalten. Das hat mir geholfen zu verstehen, wie meine Sucht funktioniert hat. Mit Alkohol habe ich mich beruhigt, um all die Reize und Gedanken überhaupt aushalten zu können. Das Trinken fehlt mir nicht. Aber ich werde kein Glas mehr anrühren. Ich kenne mein Suchthirn und traue ihm nicht.

Hilfe und Rat finden

Machst du dir Sorgen um dich selbst oder um eine Person aus deinem Umfeld? Via suchtschweiz.ch gibt es Anlaufstellen.

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