Wie ist es eigentlich, Menschen vor dem Ertrinken zu retten?
- Text: Sebastian Sele
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Lisa (28) erzählt uns von ihren Erlebnissen auf dem offenen Meer.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich in der Lage bin, diese Arbeit zu leisten. Aber dann traf ich eine Frau, die mir versicherte, dass ich alle Kriterien erfüllen würde: Ich habe Erfahrung auf Segelschiffen, bin neun Jahre lang um die Welt gereist und weiss, wie man sich in verschiedenen Kontexten zurechtfindet. Im April letzten Jahres fuhr ich also meinen ersten Einsatz als Seenotretterin bei SOS Méditerranée.
An Bord der ‹Ocean Viking›, des Schiffs, auf dem ich anheuerte, tragen alle Crew-Mitglieder Funkgeräte. Ertönt ein «Bereit zur Rettung» daraus, bleiben zwei Minuten, um in voller Ausrüstung auf dem Deck zu erscheinen. Mein erster Funkspruch kam mitten in der Nacht. Eine von Freiwilligen betriebene Rettungshotline informierte uns über ein Schlauchboot in Seenot. Doch als wir am Morgen ankamen, gab es nichts mehr zu retten.
«Ich war so wütend, fühlte mich so ohnmächtig»
In der Nacht war ein Sturm über das Meer getobt, die Wellen hatten bis zu fünf Meter Höhe erreicht. Alle 130 Menschen waren ertrunken. Die Leiche eines Mannes trieb direkt neben der ‹Ocean Viking›. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Weitere Leichen tauchten auf. Immer wieder sah ich danach ihre Gesichter vor mir. Beim Zähneputzen. Wenn ich an gar nichts dachte. Ich war so wütend, fühlte mich so ohnmächtig. Drei Tage später retteten wir 230 Menschen. So bekam alles wieder einen Sinn.
Schläuche als Schwimmwesten
Bei einer Rettung fahren wir jeweils von unserem Hauptschiff aus in grossen Schnellbooten zu den überfüllten Gummigefährten. Alle Crewmitglieder wissen genau, was sie zu tun haben. Meine Aufgabe ist es, Rettungswesten weiterzureichen. Oft tragen die Menschen in Seenot nur Schläuche, die ihnen als Schwimmwesten verkauft wurden. Haben wir die Kapazitätsgrenze erreicht, bringen wir die Menschen zur ‹Ocean Viking› und beginnen von vorn.
«Noch bewegender als eine Rettung sind die Geretteten und ihre Geschichten»
Inzwischen war ich an fünf derartigen Aktionen beteiligt, bei denen wir 365 Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben. Noch bewegender als eine Rettung ist es, die Geretteten und ihre Geschichten kennenzulernen. Wir können uns nicht vorstellen, wie das ist, die Wüste zu durchqueren, in überfüllten Trucks und streckenweise zu Fuss. Wie es ist, Freund:innen sterben zu sehen. Dann enden sie in Libyen, wo es Folter, Entführungen und Ausbeutung gibt. Viele wollten nie nach Europa, sondern nur weg aus Libyen. Sie erleben dort so viel Gewalt.
Auf der richtigen Seite
Wieder heimzukommen ist nicht leicht. Viele Leute zuhause sind sehr von ihrer Meinung über Flüchtende und die Seenotrettung überzeugt – doch eigentlich haben sie keine Ahnung, worüber sie sprechen. Nach dem Einsatz im April habe ich mich oft gestritten, auch mit Freund:innen und der Familie. Ich zeige ihnen Fotos, damit ihnen bewusst wird, welches Risiko die Migrant:innen auf sich nehmen. Kein Mensch setzt sich ohne guten Grund einer solchen Gefahr aus.
Wenige Monate nach meiner ersten Mission rief mich SOS Méditerranée erneut an. Und ich war der glücklichste Mensch der Welt. Hat man einmal mit dem Retten angefangen, ist es schwierig, wieder aufzuhören. Man tut wirklich etwas für Menschen – selbst wenn man nichts am grossen Ganzen ändert. Ich bin keine politische Person. Und erst recht keine Heldin. Aber ich weiss, was richtig ist und was nicht. Ich versuche, auf der richtigen Seite zu bleiben. Das ist doch, worum es im Leben geht, nicht? Dass man in den Spiegel schauen und sagen kann: Ich bin ein guter Mensch.» – Lisa (28) aus Sizilien, Seenotretterin im Mittelmeer