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Wie ist es eigentlich, die Madonna zu sehen?

Leben

Wie ist es eigentlich, die Madonna zu sehen?

  • Aufgezeichnet von Marc Zollinger; Bild: SXC 

Angela Bartoli (63), aus Valletri (I) erzählt 

Heilige Maria! Wie könnte ich jemals diesen Tag vergessen? Ich war im Wald unterwegs. Mein Sohn begleitete mich. Wir suchten nach Eierschwämmen. Am Nachmittag, es war der 1. Oktober 2010 um 16 Uhr, fühlte ich mich plötzlich ganz schwach. Seit dem frühen Morgen waren wir auf den Beinen. Während mein Sohn weitersuchte, setzte ich mich unter einen Baum. In der Nähe stand ein Häuschen, das über einer Grotte gebaut worden war. Hier, am Berg Artemisio, tritt das Wasser der Quelle Acqua Donzella zutage. Wie ich mich ausruhte, hörte ich plötzlich eine Stimme. Ich dachte zuerst, mein Sohn rufe nach mir. Doch es war nicht seine Stimme. Und sonst war niemand zu sehen.

Ich stand auf und ging zum Häuschen. Im Innern war es dunkel. Der Raum, drei auf drei Meter gross, war überfüllt mit Abfall. Als ich zur Wand gegenüber schaute, erschien ein Licht und im Licht eine Frau. Sie hatte die Hände vor dem Herz gefaltet und schaute mich an. Ich blieb zuerst wie versteinert stehen. Dann brach es aus mir heraus: «Oh Signora mia!», schrie ich, so laut ich konnte, und fiel auf beide Knie. Die Muttergottes fixierte mich und sagte: «Geh hinaus und trink das Wasser meiner Quelle!» Ich folgte ihrem Befehl, trank und kehrte zurück. Mein Herz bebte, als ich die Madonna wieder erblickte. Sie sagte mir, dass sie von nun an jeden Ersten des Monats hier sein und mir eine Botschaft übermitteln werde.

Ich habe die Signora gesehen! Daran zweifle ich nicht im Geringsten. Es war nicht bloss eine Vision. Sie war mit Fleisch und Knochen da, aber anfassen konnte ich sie nicht. Ich habe ihre Stimme gehört. Dass es aber die Ohren waren, welche die Worte aufnahmen, kann ich nicht behaupten. Ich weiss nicht, ob ich mich richtig ausdrücke. Ich bin nur ein einfacher Mensch. Habe weder lesen noch schreiben gelernt, fünf Kinder grossgezogen und bis zu meiner Pensionierung als Köchin gearbeitet. Jetzt muss ich plötzlich allen möglichen Journalisten Auskunft geben. «Warum wussten Sie, dass es sich bei der Frau im Häuschen ausgerechnet um die Madonna handelte», fragte mich kürzlich eine Reporterin von der RAI, dem Staatsfernsehen. «Ich bin vielleicht Analphabetin», antwortete ich, «aber blöd bin ich nicht.» Die Madonna ist die Madonna! Ich verehre sie, seit ich denken kann.

An jenem Tag war ich ganz schön aus dem Häuschen. Mein Sohn hatte meine Schreie gehört – «Signora mia, Signora mia!» – und kam zu mir gerannt. Er glaubte, ich sei übergeschnappt. Zuhause angekommen, rief er einen befreundeten Polizisten, dem ich dann alles schilderte. Am nächsten Tag gingen wir drei nochmals an den Ort. Diesmal hörte ich nur die Stimme. Ich solle mich mit dem Wasser reinigen, sagte die Signora. Ich machte mich von oben bis unten nass. Mein Sohn hörte nicht auf, mich für verrückt zu erklären. Der Polizist sagte, er müsse nachdenken.

Am 1. November besuchte ich mit meinem Sohn und einer Enkeltochter das Wasserhäuschen. Ich zweifelte nicht, dass sich die Madonna an die Abmachung hielt. Aber ich war überfordert, mit dem Wunder allein zu sein. Darum betete ich: «Signora mia, bitte gib ihnen ein Zeichen. Sie schicken mich sonst ins Irrenhaus!» Und dann erschien sie auch meinem Sohn.

Das war vor über drei Jahren. Immer mehr Menschen begleiten mich seither am Ersten des Monats. Zuletzt sollen es fast tausend gewesen sein. Die Botschaften der Madonna sind vielfältig. Aber immer will sie, dass wir beten, uns um die Kinder sorgen, den Armen helfen und in die Kirche gehen. Unser Pfarrer ist jedoch skeptisch. Die Behörden haben das Wasser unserer Quelle für nicht trinkbar erklärt. Und mehr als das halbe Dorf hält mich für eine Lügnerin. Das ist mir alles egal. Ich mache sowieso nur noch, was mir die Madonna sagt.