Werbung
Wie ist es eigentlich, einem Mörder die Haare zu schneiden?

Wie ist es eigentlich, einem Mörder die Haare zu schneiden?

  • Aufgezeichnet von Frank Heer; Foto: SXC

Nadine Selb (23), Coiffeuse in Olten, erzählt.

Er wollte die Haare auf der Seite kurz rasiert, oben ein wenig länger. Die typische Bushido-Frise. Dass er mit 17 eine junge Frau erdrosselt hatte, habe ich erst nachträglich erfahren. Da schluckte ich schon mal leer. Er war nicht besonders gesprächig, murmelte etwas von einer Wette, die er verloren hatte, weshalb er die Locken schneiden müsse. Ein intro- vertierter junger Mann, bleich und untersetzt, höflich, aber steif. Natürlich wusste ich, dass der nicht umsonst im Knast sass, aber ein Mord? Nein, das hätte ich ihm nicht zugetraut.

Als man mich und meine Mitarbeiterin gefragt hatte, ob wir Lust hätten, Insassen eines Jugendgefängnisses die Haare zu schneiden, sagte ich sofort zu. Nicht wegen der 15 Stutz, die wir pro Frisur bezahlt bekamen, sondern weil es mich interessierte, wie sie sich anfühlt, die Gefangenschaft. Und auch, weil man uns sagte, dass sich die Jungs immer sehr darauf freuten, einen coolen neuen Haarschnitt zu bekommen.

Ich hatte mir genau überlegt, wie ich auftreten wollte: selbstbewusst, aber nicht arrogant; freundlich, aber bestimmt. Auch was ich anziehen würde: Hose, unauffällige Bluse, keinen Schmuck, keine Schminke. Nichts, was irgendwie aufreizend wirken könnte. Ich war nicht nervös, doch als wir die Securityschranke zur Anstalt passierten, überkam mich ein beklemmendes Gefühl, auch wenn da keine Gitterstäbe oder bewaffneten Aufseher waren. Später standen meine Kollegin und ich zusammen mit zehn Insassen in einem Raum und begannen mit unserer Arbeit, einer nach dem andern. Natürlich wurden wir überwacht, ab und zu liess sich eine Aufsichtsperson blicken.

Von der Gefängnisleitung hatten wir die Anweisung, die Insassen nicht nach ihren Taten zu fragen, aber das hätte ich ohnehin nicht gemacht. Das ist mir zu per- sönlich. Im Laden frage ich meine Kunden ja auch nicht, wie ihr aussereheliches Sexleben so läuft. Wenn sie von sich aus erzählen wollen, bitte schön. Natürlich interessieren mich die Motive; die Brutalität, mit der Einzelne ihre Verbrechen begingen, ist schockierend. Gleichzeitig versuche ich mir vorzustellen, was die jungen Leute zu ihren Taten getrieben hat. Wie kann jemand, kaum volljährig, das Leben anderer wie auch das eigene so fahrlässig zerstören?

Einige prahlten mit ihren Fluchtversuchen, zum Beispiel in den Ausgang nach Zürich. Doch der Spass war schon am ersten Abend vorbei: Der Ausbrecher wurde noch vor dem Club verhaftet, den er besuchen wollte. Oder der Junge, der sich bei seiner Mutter verschanzte, die er so sehr vermisste, worauf zwanzig Polizisten ihre Wohnung stürmten. Solche Geschichten berühren. Plötzlich werden aus Gewalttätern junge Menschen, die versagt haben und bis zum Hals in der Scheisse stecken.

Auf der Rückfahrt wurde uns bewusst, wie freundlich und trotzdem wahnsinnig gehemmt unsere «schweren Kunden» waren. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass wir Frauen sind, kaum älter als sie selbst. Ich glaube, die hatten Respekt vor uns, weil wir uns in den Knast getraut hatten, um ihnen die Haare zu schneiden. Mit den Stunden wurde der Umgang lockerer, gleichzeitig wurde ich den Eindruck nicht los, dass sie uns zuerst als Girls und nicht als Coiffeusen oder Mitmenschen sahen. Chicks in typischen Frauenrollen halt, die ihnen draussen, in der Freiheit, untergeordnet sind. Diese Attitüde empfand ich als unangenehm, auch wenn sie vor allem unterschwellig war.

Angst gemacht hat mir nur einer. Da war etwas Negatives, was mich irritierte. Die Ausstrahlung, sein leerer Blick? Später erfuhr ich, dass er seine Tante zu Tode geprügelt hatte – weil sie ihn gebeten hatte, nicht ständig vor dem Fernseher zu sitzen.

Das Ende unseres Besuchs war fast schon rührend. Die Häftlinge haben sich artig bedankt, bezahlt und uns winkend durch die Glasscheibe nachgesehen: wie wir in eine Welt zurückkehrten, die für uns ein grauer Parkplatz mit ein paar Autos war, für die Jungs aber die Freiheit, die sie nicht betreten durften.