Leben
Wie ist es eigentlich, Angst vor dem Nachbarn zu haben?
- Aufgezeichnet von Evelin Hartmann; Foto: SXC
Die Grafikerin Anna Liechti* (32) aus Luzern erzählt, wie es ist, wenn man Angst vor dem Nachbar hat.
Meine erste eigene Wohnung. 35 Quadratmeter im fünften und letzten Stock. Aus dem Dachfenster kann ich die Schiffe auf dem See sehen. Morgens höre ich ihr Tuten. Ich habe das geliebt. Von meinen Nachbarn wusste ich damals nicht viel. Das erste Mal traf ich Mirco im Hausflur, da wohnte ich schon ein Jahr dort. Zerschlissenes Jackett, Anzughose, die schwarzen Haare zerwühlt. Eine wilde Nacht gehabt, dachte ich und warf ihm einen kurzen Gruss zu. Drei Tage später stand er in der Waschküche vor mir, dieselben Kleider, verwirrter Blick. Ob er mal meine Waschmaschine benutzen dürfe. Ich nickte, während ich meine nassen Jeans aus der Trommel zog. So fing es an – und mit einem zerknüllten Stück Papier, das er mir zwei Tage später entgegenstreckte.
«Eine Zeichnung für dich», sagte er, «als Dankeschön fürs Waschen.» Er sei Fotograf, 43, wohne im zweiten Stock. Ich fand ihn seltsam. Aber als ich mich abends mit Freunden traf, hatte ich die Begegnung schon vergessen. Es war die Türklingel, die mich Stunden später aus dem Schlaf riss. Es musste drei Uhr morgens gewesen sein. Ich ahnte sofort, dass es Mirco war. Nicht reagieren, irgendwann wird er weggehen. Er ging nicht. Stattdessen hörte ich ihn die Treppe hinuntergehen und wieder heraufkommen, hörte ihn nebenan im Estrich. Meine Ohren folgten jedem seiner Schritte. Dazwischen klopfte er immer wieder gegen meine Tür. Eine Stunde ging das so. Dann endlich: Stille.
Am Morgen stand vor meiner Tür ein brennendes Windlicht, darum herum lagen Zeichnungen, eine Karte mit der Einladung zum Kaffee. Wütend raffte ich die Blätter zusammen, stopfte sie in den Hausmüll. Die nächste Nacht, der gleiche Horror. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf, hielt mir die Ohren zu. Diesmal liess ich seine Geschenke liegen – nichts annehmen, einfach ignorieren. «Besser wäre es, wenn Sie alles fotografieren», riet mir die Polizistin am Telefon. Machen könnten sie da nichts. «Rufen Sie wieder an, sobald etwas passiert.» Da weinte ich zum ersten Mal seinetwegen.
In manchen Nächten blieb es ruhig. Trotzdem schlief ich schlecht. Tagsüber war ich todmüde, schloss ich abends die Haustür auf, fühlte ich mich beobachtet. «Er ist schizophren, psychisch krank, das sollten Sie wissen», sagte meine Nachbarin. Frau Schmid hatte mich im Hausflur abgepasst, jetzt sass ich auf ihrem Sofa mit Federkern. «Eine Zeit lang nimmt er seine Tabletten, und alles ist ruhig – bis er glaubt, sie nicht mehr zu benötigen. Das geht seit Jahren so. Wie Sie hat er aber noch niemanden im Haus belästigt.» Sie streckte mir eine Visitenkarte entgegen; die Nummer seines Sozialarbeiters.
Herr Petermann war nett. «Das Verfahren läuft bereits», beruhigte er mich. Ein ärztliches Gutachten, ein Entscheid der zuständigen Behörde – dann könne Mirco in die Psychiatrie zwangseingewiesen werden. «Zu seinem Besten», meinte der Sozialarbeiter. «Aber es braucht Zeit.» An diesem Abend fiel mir der Weg hinauf zu meiner Wohnung etwas leichter. Eigentlich. Doch oben stand er plötzlich vor mir. «Ich muss mit dir reden», flüsterte er. Ich starrte ihn an – und brüllte los: «Hau ab!» Mirco rannte an mir vorbei, die Treppe hinunter.
«Ich erkenne mich selbst nicht wieder», sagte ich zu meiner Freundin Lena, während sie ein Leintuch für mich auf ihrem Sofa ausbreitete. «Früher fand ich es toll, da oben ganz allein zu wohnen. Jetzt fühle ich mich wie in einer Falle.» Drei Nächte schlief ich bei ihr. Dann rief Herr Petermann an, der Sozialarbeiter. Ich fuhr zurück in meine Wohnung.
Am nächsten Morgen: Schritte im Hausflur. Klingeln im zweiten Stock. «Wer ist da?» «Die Polizei!» Schreie. Tritte gegen eine Wohnungstür. Poltern auf der Treppe. Stille. Ich hockte hinter der Wohnungstür auf dem Fussboden, die Hand vor den Mund gepresst, und konnte nicht aufhören zu weinen.
* Alle Namen von der Redaktion geändert