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Wie ist es eigentlich, als Blinder auf einen Berg zu klettern?

Leben

Wie ist es eigentlich, als Blinder auf einen Berg zu klettern?

  • Aufgezeichnet von Bettina Zanni

Andy Holzer, Berufsbergsteiger und blind, fühlt sich nirgendwo so sicher wie in den Bergen. Schwierig wirds dafür beim Alltäglichen.

Ich fühle mich nirgendwo so sicher wie auf einer Klettertour hoch oben in den Bergen. In der Bergwelt ist alles statisch. Die Stadt dagegen ist dauernd in Bewegung. Für mich als Blinder ist dort alles unberechenbar. In den Bergen habe ich die Sache selbst in der Hand. Mit Händen und Füssen taste ich mich die Felswand hinauf. Jeden zurückgelegten Meter speichere ich innerlich ab, um mir den Höhenunterschied bewusst zu machen und mir die Route zu merken. Nur wenn ich wenige Zentimeter neben einem Abgrund aufrecht gehen muss, packt mich die Unsicherheit. Dann fehlt mir ein klarer Referenzpunkt, an dem ich mich entlangtasten kann.

Einige finden vielleicht, dass ich mit dem Leben spiele. Dann tu ich dies aber schon, seit ich auf der Welt bin. Ich bin von Geburt an blind. Verstecken wollte ich mich wegen meines Handicaps nie. Als Kind war ich im Dorf der Anführer der Rasselbande. Ich wusste, wo wir die Nägel für die Baumhütte stibitzen konnten. Das scheinbar Unmögliche hat mich immer gereizt. Unvernünftig
bin ich aber nicht. Der Respekt vor meiner Blindheit – ob in der Stadt oder auf dem Berg – ist mein ständiger Begleiter. Gerate ich auf einer Klettertour in eine brenzlige Situation, bewahre ich einen kühlen Kopf. Vor zehn Jahren war ich mit einem Kameraden auf Bergtour in den Dolomiten. Er kletterte dreissig Meter vor mir. Plötzlich hörte ich ein leises Donnern. Ich glaubte zuerst, er lasse seinen Rucksack herunter, und griff zum Seil – es hing schlaff nach unten. Mein Kamerad war abgestürzt. Ich blendete meine Emotionen aus und verständigte den Rettungsdienst.

Während einer Klettertour muss sich die Seilschaft nur in wenigen Dingen mir anpassen: Damit ich mich am Geräusch der Schritte meiner Kollegen orientieren kann, dürfen sie sich beim Abstieg nicht zu weit von mir entfernen, schwieriges Gelände müssen sie noch langsamer passieren. Da ich nichts sehe, bewege ich mich auch an vermeintlich einfachen Stellen, wo andere übermütig werden könnten, vorsichtiger. Das kommt anderen Bergsteigern zugute. Es ist sogar schon vorkommen, dass ich auf einer Klettertour, die ich zuvor noch nie gemacht habe, eine Seilschaft mit sehenden Bergsteigern angeführt habe. Um festzustellen, ob sich vor mir eine Kluft auftut, werfe ich eine Handvoll Sandkörner. Das Geräusch ihres Aufpralls verrät mir, wo der Fels aufhört und die Kluft beginnt.

Auf Hilfe angewiesen bin ich in den Bergen immer, wenn es um Alltägliches geht: Den Tee kann ich nicht allein in die Thermosflasche füllen. Nachts muss mich jemand auf die Toilette begleiten, damit ich mit den scharfen Zacken der Steigeisen nicht das Zelt aufreisse. In der Berghütte vergessen meine Kameraden manchmal, dass ich blind bin. Führt mich da keiner, stosse ich mich an den Tischen oder stolpere über die Stühle.

Einen Berg bezwinge ich nie allein. Aber ich verlasse mich auch nicht «blind» auf andere Bergsteiger. Ich kann von Sehenden nicht erwarten, dass sie meine Bedürfnisse genau einschätzen können. Zudem herrscht in den Bergen für Blinde und Sehende Chancengleichheit; beide müssen sich in höchstem Masse konzentrieren. An meine Begleiter stelle ich keine besonderen Ansprüche. Unterwegs war ich schon mit starken und schwachen Kletterern. Ich habe mal auf einer meiner Buchvernissagen* ein Exemplar für einen Bergsteiger signiert – schon am nächsten Tag kletterten wir dann zusammen eine Felswand hinauf.

Auf dem Gipfel angekommen, nehme ich den Rucksack ab, trinke aus der Flasche und plane bereits mein nächstes Projekt. Die Besteigung des Mount Everest; das wärs. Mit ihm hätte ich den letzten der sieben höchsten Berge der Welt bezwungen. Dass ich die «schöne Aussicht» auf den Gipfeln nicht geniessen kann, bedaure ich keineswegs. Das Auge ist das unzuverlässigste und am leichtesten zu täuschende Sinnesorgan. Zudem habe ich meine eigenen Bilder. Sehen wäre nur eine schöne Ergänzung. Naja, um reagieren zu können, wenn mir ein Bankräuber
in der Stadt den Revolver vor die Nase hält, wäre das Augenlicht ganz praktisch.

*Das Buch «Balanceakt. Blind auf die Gipfel der Welt» von Andy Holzer ist 2010 beim Patmos-Verlag erschienen.