Wie ist es eigentlich, als Balletttänzerin plötzlich im Rollstuhl zu sitzen?
- Aufgezeichnet von Regula Rosenthal; Foto: Getty
Eine Ballett-Tänzerin erzählt, wie es ist, plötzlich im Rollstuhl zu sein.
Es war ein Reitunfall. Auf dem Ausritt im nahe gelegenen Frankreich wurde mein Pferd von Wespen gestochen und warf mich im Vollgalopp aus dem Sattel. Rücklings lag ich auf einem stoppeligen Feld, allein.
Schon als Mädchen hatte ich davon geträumt, Ballerina zu werden. Mein ständiger Bewegungsdrang veranlasste meine Eltern, mich bereits als Vierjährige in den Ballettunterricht zu schicken. Später konnte ich dank eines Stipendiums von Toronto, wo ich aufwuchs, nach New York, wo ich mich bis zur Bühnenreife weiterbildete. Dort begegnete ich Heinz Spoerli. Der Choreograf wählte mich unter 200 Tänzern aus, die sich für eine Stelle bei ihm in Basel bewarben. Die Begegnung war für meine Karriere ausschlaggebend. Ich bekam die Chance, meinen Traum zu verwirklichen.
Ich erinnere mich genau, wie das war, damals vor zehn Jahren, als ich vom Pferd fiel. Es war ein schwüler Sommertag, kompakte Wolken zogen über mir vorbei. Weit und breit gab es niemanden, der mich hören konnte.
Heinz Spoerli hatte mich in die Schweiz gebracht, nach Basel, wo er am Theater Ballettdirektor war. Er hatte sich meiner stark angenommen, mich vom Flughafen abgeholt und sogar meine Koffer getragen. Obwohl ich zunächst kein Deutsch konnte und niemanden kannte, hatte ich mich schnell in der Schweiz eingelebt. Mein neues Leben war spannend, wenn auch verbunden mit viel harter Arbeit. Heinz Spoerli war streng, aber er förderte mich. Schon bald durfte ich Solorollen tanzen. Und dann hatte ich auch privat Glück. Ich heiratete. Einen tanzbegeisterten Basler Zahnarzt.
Ich lag am Boden und wollte auf die Uhr schauen, aber ich konnte nur noch die Handgelenke drehen. Mein Nacken schmerzte. Schlagartig wurde mir klar, dass ich ganz gelähmt sein musste.
Mein Pferd stand reglos in meiner Nähe.
Ich habe keinen Moment lang an die möglichen Konsequenzen einer Lähmung gedacht. Ich wollte nur eines: gefunden und gerettet werden. Ich war sicher, die Nacht allein auf dem Feld würde mein Tod sein. Langsam wurde es dunkel, ich bekam Angst.
Spazierfahrer mussten das Pferd entdeckt haben. Das war meine Rettung. Jemand rief die Ambulanz, jemand informierte meinen Mann. Er wollte mich per Helikopter in die Schweiz fliegen lassen. Doch ich wollte das nicht. Ich war zu schwach und hatte Angst, nicht zu überleben. Schwer verletzt wurde ich ins nahe gelegene Spital gebracht, wo ich noch in derselben Nacht operiert wurde. Ich hatte fünf Wirbelfrakturen. Die Chirurgen stabilisierten die Halswirbel mit Stahlstäben. Tetraplegie. Danach verbrachte ich neun Monate in der Rehaklinik in Nottwil. Seither sitze ich, die ehemalige Primaballerina, im Rollstuhl. Mein Lebenswille hat mir geholfen, mit der neuen Situation klarzukommen.
Vier Jahre nach dem Unfall gründete ich eine Ballettakademie im Schloss Villersexel in der Region Franche-Comté. Ich startete meine Sommerkurse mit gerade einmal vier Schülern, heute sind es über achtzig. Ich unterrichte vom Rollstuhl aus klassisches Ballett und zeitgenössischen Tanz. Für die anderen Sparten habe ich Tanzlehrer engagiert. 2006 gründete ich zudem eine Ballettschule in Basel. Meine Compagnie tritt mehrmals pro Jahr auf.
Mein Mann ist im letzten Jahr unerwartet gestorben. Ich habe nie damit gerechnet, als Witwe im Rollstuhl zu sein. Aber nie habe ich Wut oder Frustration verspürt. Ich bin glücklich über alles, was ich habe: Mein Leben. Den Tanz. Wenn auch nur als Ausbildnerin, als Förderin für die Karriere anderer. Ich habe mit meinen Tänzern internationale Wettbewerbe gewonnen.