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Wie die Hühner

Leben

Wie die Hühner

  • Text: Leandra Nef; Foto: GettyImages

Wenn es ums Aufstehen geht, hält es unsere Autorin mit dem Federvieh. Ihr ist die Zeit zwischen fünf und sechs Uhr am liebsten.

Ich weiss nicht, wie viele Sonnenaufgänge ich in den 263 Tagen geniessen durfte, die dieses Jahr bis dato zählt. Aber es waren einige. Vermutlich die meisten.

Sie sollten wissen: Ich stehe früh auf. Und wenn ich eines nie verstehen werde, dann, warum Menschen lieber spät zu Bett gehen und – um eine anständige Portion Schlaf zu erhalten – spät aufstehen. Ist der Morgen, der Beginn eines neuen Tages, nicht zu aufregend, um auch nur eine Stunde davon zu verpassen? Wie können Spätaufsteher das ungeheure Potenzial frühmorgendlicher Stunden ungenutzt verstreichen lassen?

Diese Zeit zwischen fünf und sechs Uhr, wenn alles schläft, du einsam wachst – und die ganze Welt für wertvolle sechzig Minuten nur dir gehört. Wenn sich am sommerlichen Himmel um kurz nach fünf Pink und Rot und Lila zu einem pittoresken Farbfeuerwerk zusammenschliessen und du extra die Rollläden oben und das Fenster offen gelassen hast, um das Spektakel nicht zu verpassen. Wenn kurz darauf die Sonne über den Baumwipfeln des nahen Waldes aufgeht und dein Schlafzimmer mit Licht durchflutet. Wenn dieser Zauber also das Erste ist, das du am Morgen siehst – wie könntest du dann anders, als mit einem zufriedenen Lächeln und sprühendem Tatendrang in den Tag zu starten?

Jetzt, im Spätsommer, beehrt mich der Sonnenaufgang zwar erst auf dem Weg ins Büro, aber nicht minder spektakulär: Heute knallte er mit solcher Intensität gelb-orange vom Himmel, dass man fast Angst hätte haben können, er setze die Atmosphäre in Brand.

Während ich also mit dem Velo zum Bahnhof fahre und wie ein kleines Kind staunend den Himmel betrachtete, fallen mir viele weitere Gründe ein, warum ich lieber Lerche als Eule bin. Ich liebe die Ruhe, die über den taufrischen Feldern hängt, wenn ich bei Tagesanbruch daran vorbeiradle. Staune über die verheissungsvolle Stille, die herrscht, bevor die Vögel ihren Gesang aufnehmen und die Hektik des Alltags über den Tag hereinbricht. Ich geniesse es, die Einzige im Zugabteil zu sein und die Erste im Büro. Wissen Sie, wie viel ich am Morgen schon erledigt habe, bevor andere ihren Wecker zum ersten Mal snoozen?

Dass Morgenmenschen am Morgen mit Abstand am produktivsten sind und besonders fokussiert arbeiten können, ist natürlich längst wissenschaftlich bewiesen und keine Überraschung mehr – genauso wenig wie die Tatsache, dass Abendmenschen am Abend leistungsfähiger sind. Jens-Michael Potthast vom Institut für Integrierte Produktion Hannover fand jedoch heraus, dass Morgenmenschen über den gesamten Tag hinweg deutlich konstantere Leistungen zeigen als Abendmenschen. Und Biologe Christoph Randler doppelt nach: Morgenmenschen seien proaktiver und gewissenhafter als solche, die später aufstehen, hätten ergo mehr Erfolg. Sie verstehen bestimmt, dass ich diese Erkenntnisse absichtlich nicht zu widerlegen versuche – und stattdessen ein Paradebeispiel für die Gültigkeit dieser Feststellung liefere:

Die ehemalige First Lady Michelle Obama erzählte im Interview mit Oprah Winfrey einst, dass ihr Morgen um 4.30 Uhr mit einem Workout starte – so bleibe ihr während des Tages genug Zeit für Familie und Arbeit. Noch früher steht Apple-CEO Tim Cook auf. Gegenüber dem «Time Magazine» erklärte er, dass sein Morgen um 3.45 Uhr beginne, er zuerst eine Stunde E-Mails beantworte, Sport mache und dann noch mehr Mails beantworte, bevor er schliesslich zur Arbeit fährt.

Zugegeben, 3.45 Uhr ist sogar für mich etwas früh. Dennoch ist mir Cooks Strategie um Längen sympathischer als die der Spätaufsteher. Es war, es ist und es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum Menschen diesen morgendlichen Zeitvorsprung nicht nutzen. Aber, und auch das muss ich ehrlich zugeben: Ein klein wenig bin ich froh um die Existenz der Schlafmützen. Wenn alle so früh wach wären wie ich, was würde dann aus meiner Ruhe, was aus dem Zeitvorsprung?