Für Junior-Online-Editor Anoushé Dastmaltschi spricht nichts gegen einen gesunden Lebensstil – solange neben Obst und Gemüse auch Platz für Pasta und Schokolade bleibt.
Wir sitzen beim Brunch. Eine Freundin bestellt genau das gleiche Frühstück wie bei unserem letzten Treffen: einen Green-Smoothie, eine Omelette, die nur aus Eiweiss besteht, und dazu ein Glas Wasser mit Zitrone. Was beim letzten Mal kaum aufgefallen ist, wirkt bei der heutigen Wiederholung schon eher merkwürdig. «Ich möchte mich nur noch gesund ernähren und einem Clean-Eating-Programm folgen», sagt sie mir nach der Bestellung. Sie verzichte nun auf Zucker und Gluten. Ob sie sich dabei nicht sozial isoliere? Egal, falls sie von ihrem Programm abweichen müsse, bleibe sie lieber zuhause, als mit Freunden auszugehen. Und nein, es habe nichts mit Ästhetik zu tun, nein, sie wolle einfach ihren Körper wertschätzen und möglichst gesund leben. Aha, und wenn ich meine Wochenendwaffeln bestelle, vergifte ich also meinen Körper?
Natürlich ist gesunde Ernährung wichtig, damit mein Körper bestmöglich funktioniert und fit bleibt. Das mache ich als sportliche Frau zu 80% der Zeit auch. Muss ich dafür aber wirklich täglich möglichst ausnahmslos sauber essen? Auf ein leckeres Stückchen Torte mit Freunden verzichten und lieber Wasser statt Champagner bei der nächsten Party trinken? Darf Essen nicht einfach meiner Seele gut tun?
Clean-Eating mit Suchtgefahr
Mit den Hashtags #cleaneating, #strongnotskinny und #fitspo präsentieren Bloggerinnen und Blogger, Social-Media-Userinnen und -User, wie ein gesunder Lifestyle zu ihrem täglichen Leben gehört. Man nimmt sich die Zeit, ausschliesslich biologisch und unverarbeitete Lebensmittel zu kochen, das Essen schön auf einem Teller zu platzieren, um sich fürs anschliessende Training im Gym zu stärken. An sich sind diese Influencer keine schlechten Vorbilder, solange sie dem Betrachter gegenüber ehrlich sind, ihre schlechten Tage nicht verheimlichen und das eigene Essverhalten nicht zur Religion hinaufstilisieren.
Klar, fühlt man sich mit gesundem Essen gut, die Figur bleibt in Form, und wir schlafen nach dem schweren Mittagessen nicht ein. Aber wie gesund ist zu gesund? Das Streben nach ewiger Reinheit in der Ernährung lässt unsere Gesellschaft in ein neues Extrem kippen: Wir sind in einem neuen Gesundheitswahn angekommen, bei dem Kale höhergestellt wird als Pasta und das Streben nach einer gesunden Ernährung zur Sucht werden kann.
Von einer Sucht sprechen Experten, wenn sich ein Patient ununterbrochen mit einem Thema beschäftigt. Beim Clean-Eating-und-Fitness-Trend wird der gesunde Lifestyle zur Hauptbeschäftigung: Man plant Mahlzeiten, Sporteinheiten und Restdays bis ins letzte Detail. Weicht man nur leicht von diesem strikten Plan ab, muss der Körper mit einem Detox-Programm oder noch strikterer Ernährung büssen, damit er wieder rein und gesund wird.
Orthorexia Nervosa: von korrekter Ernährung besessen
Tatsächlich gibt es eine Bezeichnung für diesen übergesunden Lebenstil, die den Krankheitsaspekt aufgreift: das bisher nicht anerkannte, verzerrte Essverhalten namens Orthorexia nervosa. Das Wort wird zusammengesetzt aus orthos (griech. korrekt) und Orexia (griech. Appetit, Hunger, Lust) und wurde von Steven Bratman im Jahr 1997 kreiert, um Menschen zu beschreiben, die von korrekter Ernährung besessen sind. Diesem Zwang gehen sie mit eingeschränkter Ernährung, extremem Fokus auf Essensvorbereitung und Essensmuster nach. Sie bevorzugen Qualität über Quantität, um das eigene Wohlbefinden und die eigene Gesundheit durch die Nahrung zu maximieren.
Dieses extreme Essverhalten ist gerade deswegen häufig sehr einseitig. Das kann zu Mängeln und körperlichen Beschwerden führen, ähnlich wie bei einer Magersucht. Psychologisch erleben orthorexische Patienten Besorgnis, wenn sie sich nicht an ihre Muster halten können, Ekel, wenn sie unreines Essen vermuten, Schuld und Selbsthass, wenn sie von ihrer Essensphilosophie abweichen müssen, und ständige Angst, dadurch ihre Gesundheit zu beeinträchtigen. Was folgt, ist die soziale Isolation.
2014 gestand die bekannte vegane Bloggerin Jordan Younger von The Balanced Blonde (damals The Blonde Vegan), dass sie unter einer Essstörung litt, auch wenn sie in der Gesellschaft nicht als krank aufgefallen wäre. Den veganen und glutenfreien Lifestyle wählte sie damals, um sich von chronischen Bauchschmerzen zu befreien. Alle Lebensmittel, die ihr Schmerzen bereiten könnten, wurden phobisch vermieden, da sie sich sonst nicht gut und gesund fühlte. Was auf ihren Social-Media-Kanälen als strahlendes, veganes und vor allem gesundes Mädchen präsentiert wurde, war in der Tat eine von ihrem Lifestyle besessene junge Frau mit Mangelernährung.
Ihre Geschichte dokumentierte sie in ihrem Blog und später in einem Buch. Durch ihren eigenen Heilungsprozess vollzog ihr Blog auch einen Imagewechsel, was bei vielen ihrer Leserinnen und Leser, die sich mit ihrem veganen Lifestyle identifiziert hatten, gar nicht gut ankam. Die negative Reaktion auf ihren Versuch, sich von einem Ernährungslabel zu befreien, und ihren Mut, trotzdem offen und ehrlich über ihre Sucht zu sprechen, sorgte für viel Aufmerksamkeit.
Trotz Häufigkeit noch unspezifische Essstörung
Seither hinterfragen immer mehr Menschen (vor allem andere Lifestyle-Blogger) ihre Ernährung und merken, wie ungesund und fast zwanghaft ihr gesundes Leben eigentlich ist. Und obwohl nun viele Verhaltensmuster der Orthorexie erkennen, wird sie noch nicht als psychische Krankheit von der fünften Version des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-5, seit Dezember 2014) anerkannt. Dazu fehlen noch zuverlässige Messinstrumente für eine valide Schätzung ihrer Häufigkeit, erklären Nancy Koven und Alexandra Abry in ihrer Studie «The Clinical Basis of Orthorexia nervosa: Emerging Perspectives». Zurzeit reiche die Häufigkeit von 6.9 bis 57.6 Prozent der Bevölkerung.
In der Schweiz ist Orthorexie noch weitgehend unbekannt. Laut Dr. Erika Toman, Fachpsychologin für Psychotherapie, gibt es drei klassische Essstörungsformen: Anorexie, Bulimie und Binge-Eating-Disorder. Orthorexie könnte zu den häufig auftretenden, unspezifischen Essstörungen zählen, wird aber nicht selbstständig als Krankheit klassifiziert.
Ich treibe selbst viel Sport und versuche, viel Gemüse und Obst auf meinen Teller zu packen. Neben Gymnastik und Tanzen findet man mich in meiner Freizeit oft im Hantelbereich des Gyms. Da ist mir auch bewusst, wie schnell der sportliche Lifestyle zu einer Art Sucht werden kann. Die richtige Balance zu finden und auf die Bedürfnisse und Gelüste des eigenen Körpers zu achten, ist schwierig und gelingt nicht allen. Vor allem wenn von der Gesellschaft eine gewisse Ernährungsart bevorzugt und erwartet wird. Man möchte durch adäquate Ernährung sein Training bestmöglich unterstützen, lehnt eine Torte lieber ab und isst den eigenen, proteinreichen Snack. Und dagegen spricht auch nichts – solange der Lebensstil nicht das Leben dominiert.