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Wie geht es Natascha Kampusch heute?

Wie geht es Natascha Kampusch heute?

  • Interview: Franziska K. Müller; Fotos: Daniel Gebhart de Koekkoek

Vor zehn Jahren endete der spektakulärste Entführungsfall der jüngeren Geschichte: Nach acht Jahren in einem Wiener Verlies gelang Natascha Kampusch die Flucht. Wie geht es ihr heute? Wir trafen sie zum exklusiven Gespräch.

Treffpunkt ist ein Wiener City-Hotel im 7. Bezirk. Natascha Kampusch erscheint auf die Minute pünktlich. Sie trägt dunkelrote Stiefeletten, einen Daunenmantel in derselben Farbe, darunter ein schwarzes Strickkleid. Im Hotelzimmer im 7. Stock angelangt, schaut sie minutenlang aus dem Fenster. Die Aussicht ist spektakulär. Natascha Kampusch zeigt auf Strassen, Quartiere, Sehenswürdigkeiten, rezitiert städteplanerisches Wissen, das sie sich in den vergangenen zehn Jahren der Freiheit angeeignet hat. Dann fällt ihr Blick auf die Zimmereinrichtung: Den gehäkelten Lampenschirm. Die aufgetürmten Koffer. Eine Schneiderpuppe aus Draht. Die kleine Küche, die Teesorten, der Seifenspender in der Toilette. Alles wird kommentiert und gedanklich eingeordnet. Elegant sind ihre Bewegungen, die Worte genau gewählt. Natascha Kampusch ist mehr distinguierte Lady als unbeschwerte junge Frau. Eigentlich würde sie gut in die Fünfzigerjahre passen, sagt sie selbst. Dort ortet Natascha Kampusch, 28 Jahre alt, Werte und Standpunkte, die ihr entsprechen. Aber auch jene Fertigkeiten, die sie in langen Tagen der Gefangenschaft erlernte und heute noch pflegt: Häkeln, Nähen, Kochen.

Zum Gespräch platziert sich Natascha Kampusch so, dass der Blick in den blassen Winterhimmel abschweifen kann. Nach wenigen Minuten bittet sie ihre beiden Begleiter, das Zimmer zu verlassen. Sie fühle sich sicher genug, um allein Rede und Antwort zu stehen.

Zehn Jahre sind tatsächlich schon vergangen, seit der Fall Kampusch weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Damals, als einer vermissten und längst tot geglaubten jungen Frau die Flucht aus einem Kellerverlies in Wien gelang – nach achtjähriger Gefangenschaft. Und schon damals, 18-jährig, wusste sie sich danach in der Öffentlichkeit in perfekt konstruierten Sätzen zu äussern. Klug und altklug zugleich. Zerbrechlich wirkend, aber auch Stärke ausstrahlend. Das verstörende Verbrechen wurde zum Jahrhundertfall. Schwierig einzuordnen und noch schwieriger zu entschlüsseln, auch, weil sich der Täter selbst umgebracht hatte. Es folgten Ermittlungspannen, Indiskretionen, Hypothesen über mögliche Mittäter, Mitwisser und eine mediale Berichterstattung, die wild sezierte, psychologisierte, pathologisierte. Irgendwann geriet Natascha Kampusch selbst ins Zentrum der Kritik, wurde zur Zielscheibe von Anschuldigungen und Spekulationen, die sich in der Zwischenzeit alle als haltlos erwiesen haben, wie sie im Gespräch betont. Doch was sie sich voller Chancen ausgemalt hatte, nämlich ein Leben in Freiheit, wurde zur nächsten schweren Prüfung. Paradoxerweise waren es just die einsamen und harten Jahre der Gefangenschaft, die ihr Zuversicht gaben: «Ich wusste, dass ich alles schaffen kann.» Heute habe sie ihren Platz in der Gesellschaft gefunden und blicke optimistisch in die Zukunft. Sie will sich weiterhin für humanitäre Anliegen engagieren, möchte als Botschafterin eines Tierschutzprojekts verpflichtet werden und – nachdem sie bereits zwei autobiografische Bücher verfasst hat – soll bald ein Roman oder ein Kinderbuch folgen. Gleichzeitig arbeitet sie an ihrer ersten Schmuckkollektion und könnte sich vorstellen, eines Tages in der Schweiz zu leben. In einem alten Holzhaus.

annabelle: Natascha Kampusch, Sie bemalten die Wände des fensterlosen Kellers, in dem Sie acht Jahre lang gefangen waren, mit Tieren, Bäumen und Menschen, allerdings auch mit einer Türfalle: Wie haben Sie sich die Welt draussen als Kind vorgestellt?
Natascha Kampusch: In Gedanken öffnete ich die Tür und unternahm Spaziergänge und Reisen ans Meer. Das hat immer funktioniert. Es ist eine schöne Erinnerung. Heute kann ich mich an klassischen Ferienzielen allerdings nicht entspannen. Sonne, Strand und Meer sagen mir nicht zu. Lieber entdecke ich die freie Natur und meine Umgebung.

Und wie beschreiben Sie Ihren heutigen Alltag?
Meine Haustiere sind mir sehr wichtig, ihre Pflege gehört zu meinen täglichen Routinen. Ich kümmere mich auch um Pferde und reite aus. Meine Wohnung ist ein friedlicher Ort für mich. Es war mir wichtig, dass sie nicht im Parterre liegt, es keine kleinen verwinkelten Räume gibt, dafür viel Licht und Luft. Die Einrichtung wählte ich nach ästhetischen, qualitativen und ökologischen Kriterien aus. Mein Traumhaus wäre aus Holz; ein Bauernhof mit viel Umschwung würde mir gefallen.

Das Kleid, das Sie bei Ihrer Entführung als 10-jähriges Mädchen trugen, haben Sie in der Gefangenschaft zigmal umgenäht, weil es das einzige Mädchenkleid war, das Sie besassen. Heute sind Sie eine sehr gepflegte Erscheinung: Wie wichtig ist Ihnen das Äussere?
Es ist eine Möglichkeit, Wertschätzung auszudrücken: mir selbst gegenüber. In meiner Wohnung duftet es auch gut, und manchmal verwöhne ich mich mit einem Wellnesstag in meinem Badezimmer. Gleichzeitig versuche ich mich den gängigen Schönheitsidealen zu entziehen, weil ich sie als einschränkend empfinde.

Dass die Freiheit ein zweischneidiges Schwert sein kann, erlebten Sie in den vergangenen Jahren in vielerlei Hinsicht. Wie definieren Sie Freiheit?
Nur die innere Freiheit würde ich als grenzenlos beschreiben. Sie ist auch möglich, wenn die äusseren Umstände schwierig sind. Und ich weiss, dass nicht nur Gitterstäbe und abgeschlossene Türen für Unfreiheit sorgen können. Das soziale Milieu, in das man hineingeboren wird, prägt die Möglichkeiten der Menschen. Aber auch eigene charakterliche Dispositionen. Vorurteile und festgefahrene Ideen sind der geistigen Freiheit abträglich, und manches, was als Gipfel der Freiheit gilt – zum Beispiel Reichtum –, kann bei näherer Betrachtung einengend sein. In der Freiheit geht es für mich darum, aus einem Pool an Angeboten die richtige Wahl zu treffen, das heisst aber auch, manches auszuschliessen.

Sicher kein einfaches Unterfangen, wenn alles neu und unbekannt ist und – wie damals vor zehn Jahren – plötzlich eine ganze Lebensplanung ansteht?
Selbst zu bestimmen, was man isst, trinkt, ob man eine Dusche nimmt oder ein Vollbad, was man anzieht, ob man die Haare wäscht, empfand ich als überaus wohltuend. Die Planung des weiteren Lebens war schwieriger und vor allem verwirrend für mich, weil so viele Menschen meinten, mir sagen zu müssen, was ich zu tun hätte. Von der sofortigen Familiengründung bis Investment- Ratschlägen war alles dabei. Davon musste ich mich innerlich befreien und zu eigenen Schlüssen gelangen, was mit einem Reifungsprozess verbunden war.

Sie waren in Gefangenschaft bis auf den Kontakt zu Ihrem Entführer immer allein. Was wussten Sie über die Menschen, über Freundschaft, Liebe, Verrat?
Wenig. Am Anfang haben die Begegnungen mit anderen Menschen zu wenig weiterführenden Kontakten geführt. Weil es ja eine Frage von Sympathie und Empathie ist, mit jemandem befreundet zu sein. Solches Wissen fehlte mir am Anfang. Ich war auch ein wenig versnobt, habe aber in der Zwischenzeit dazugelernt und beurteile die Menschen nicht mehr nach dem schönen Schein. Heute bin ich weniger mit konservativen Personen befreundet, die den Glitzeranhänger für das tolle Auto vor sich hertragen, sondern mit Männern und Frauen, die ich gut kenne und bei denen ich das Herz und den wahren Charakter mag. Auch in dieser Hinsicht musste ich meine Neigungen und Abneigungen erkennen. Und ich wollte daran glauben können, dass man sich auf andere Menschen verlassen kann.

Ist das in der Zwischenzeit gelungen?
Ich weiss, dass man sich darauf verlassen kann, wie Menschen sind. Man kann sich also nicht unbedingt in allen Aspekten auf jemanden verlassen, aber man kennt die Verhaltensweisen und weiss im besten Fall damit umzugehen. Vertrauen muss auch flexibel bleiben und sollte nicht mit Erwartungshaltungen verwechselt werden. Vor allem aber kann sich Vertrauen aufbauen, wenn es unter Beweis gestellt worden ist.

Sie lebten als Kind auch ohne äussere Einflüsse und Ablenkungen. Wie hat sich dieser Umstand auf Ihr späteres Leben ausgewirkt?
Nicht nur negativ. Was die Werbe- und Unterhaltungsindustrie vorgibt oder die Peergroup in der Schule vorlebt, war mir völlig fremd. Ich trat in dieser Hinsicht als unbeschriebenes Blatt in das Leben hinaus und konnte mir als junge Erwachsene Meinungen bilden, die allein auf meinen Überlegungen und den Erfahrungen in der Freiheit basierten. In diesem Zusammenhang mussten viele Entscheidungen getroffen werden, was manchmal schwierig war, weil es an entsprechenden Erfahrungen mangelte, und manche Misserfolge blieben nicht aus.

Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass Sie in Gefangenschaft Sie selbst sein konnten. Weil es in dieser ausweglosen Situation keine Unsicherheiten und offenen Fragen gab?
Das ist richtig. Zudem wurde ich auf eine intensive Art wahrgenommen, wie ich es zuvor nicht gekannt hatte. Was Kinder von den Erwachsenen übernehmen und imitieren, das fiel in der Gefangenschaft alles weg. Selbsterkenntnis war auch darum sehr wichtig, weil ich ganz allein war und anfänglich nicht wusste, wie man sich in einer solchen Situation verhält. So wurde ich zu mir selbst zurückgeführt.

Mussten Sie Kompromisse machen?
Sicher. Ich musste die Anforderungen des Täters erfüllen und seinem Druck und seinen Aggressionen nachgeben, aber eine innere Unterwerfung hat nie stattgefunden. Prinzipien und Standpunkte waren und sind mir bis heute wichtig.

Emotional, sozial, aber auch im Bereich kindlicher Aktivitäten mussten Sie auf vieles verzichten: eine Puppe besitzen, einen Jahrmarkt besuchen. Waren Sie als junge Erwachsene versucht, solche Dinge nachzuholen?
Da ich so viele Jahre ohne elterliche Liebe und Anleitung auskommen musste, die einem Kind die Basis für ein gutes Leben ermöglicht, war es mir vor allem ein Bedürfnis, diese in der Gefangenschaft so stark empfundene Sehnsucht zu stillen. Auch wollte ich endlich die Schule besuchen. Die Jugendlichen waren nur vier Jahre jünger als ich, und doch trennten uns Welten.

Wurden beide Hoffnungen nicht erfüllt?
Irgendwann kam ich zum Schluss: Wenn man fixe Ideen im Kopf hat, das Vermisste und Ersehnte unbedingt nachholen will, scheitert man. Verfügt man aber über echte Selbstbestimmung und Lebensfreude, dann disponiert man um und findet ein Glück, das realistisch ist. Den Schulabschluss habe ich in der Zwischenzeit nachgeholt, ohne in einem Klassenzimmer sitzen zu müssen. Zu meiner Familie pflege ich ein anderes Verhältnis, als ich mir ersehnt hatte, und trotzdem ist es ein gutes Verhältnis.

Man spricht oft von Resilienz – also vom Vermögen eines Menschen, ausweglos erscheinenden Situationen die Stirn zu bieten, Verhaltensstrategien zu entwickeln und psychische Stärke zu mobilisieren, um zu überleben: Verfügen Sie über diese Begabung?
Die Resilienz hat man mir zwar attestiert, aber mein Überleben und Weiterleben war nicht einer geschenkten Disposition zu verdanken: Beides war hart erarbeitet. Da ich bereits schwierigste Jahre völlig allein überstanden hatte, war ich zuversichtlich, dass ich auch in der Freiheit bestehen kann. Ich bin aber auch ein grundsätzlich positiver Mensch und erkenne mich in der Figur des tapferen Schneiderleins wieder. Es läuft mit dem Provianttuch am Stock allein, aber frohen Muts durchs Land, neuen Abenteuern entgegen. Dieses Gefühl habe ich nie verloren, nicht in der Gefangenschaft und auch nicht in meinem späteren Leben.

Die Jahre, die der Selbstbefreiung folgten, erwiesen sich trotzdem alles andere als einfach. Welches war die schwierigste Erkenntnis?
Dass sich meine Vorstellungen von manchen Menschen in puncto Zivilcourage und gesundem Menschenverstand nicht erfüllten.

Ein Artikel in einem deutschen Nachrichtenmagazin sorgte kurz nach Ihrer Befreiung dafür, dass sich das Mitgefühl für Ihr Martyrium in Luft auflöste: Mit welchen Folgen genau?
Es ging um einen Skiausflug, den ich mit dem Täter unternehmen musste. Er drohte mir im Vorfeld, mich und vor allem auch jene Personen, die ich um Hilfe angehen würde, sofort umzubringen. Dennoch wurde mir danach unterstellt, ich hätte gar nicht fliehen wollen. Fortan wurde ich beinah als Täterin dargestellt. Die Leute beschimpften mich öffentlich als Hure. Es gab Eltern, die ihre Kinder vor mir wegzogen. Hass, Missgunst, Anschuldigungen an mich und meine Eltern gehörten zu meinem Alltag.

Andere Menschen, die Ähnliches durchmachen mussten, tauchten sofort ab, wechselten die Identität und äusserten sich nicht zum Gewesenen. Würden Sie, wenn man das Rad der Zeit zurückdrehen könnte, in dieser Hinsicht etwas anders machen?
Nein, ich würde es heute wieder so machen. Das Einzige, was ich weglassen würde: es anderen recht machen zu wollen.

Verübelt wurde Ihnen auch, dass Sie den Täter differenziert analysierten, in ihm nicht nur das Monster, sondern auch einen fehlgeleiteten und psychisch gestörten Menschen sahen. Was antworten Sie diesen Kritikern?
Dass sie eine eingeschränkte Vorstellung davon haben, wie sich ein Opfer benehmen muss, was es sagen darf und wie es sein Leben weiterzuführen hat. Im Nachhinein glaube ich allerdings auch, dass ich manchen Menschen einen Spiegel vorhalten konnte und dass sie zu neuen Schlüssen gelangten und irgendwann realisierten, dass eine solche Geschichte niemals nur schwarz oder weiss funktioniert.

In Ihrem Fall entzog sich der Täter seiner Strafe, indem er Selbstmord beging: Sie konnten nicht mehr gegen ihn aussagen, ihm vor Gericht nicht in die Augen blicken. Hat dieser Umstand die Aufarbeitung des Gewesenen erschwert?
Ich konnte ihn nach meiner Selbstbefreiung nicht direkt mit seiner Tat konfrontieren, allerdings tat ich dies ja in der Zeit meiner langjährigen Gefangenschaft. Ich gab ihm zu verstehen, dass es nicht richtig ist, was er macht. Und er wusste auch, dass es falsch ist, was er mir alles antut. Allerdings fand ich bereits als Kind im Gedanken, dass er büssen muss, keinen Trost. Und so ist es geblieben. Rachegefühle bringen mich in meinem Leben nicht weiter. Zudem dachte ich nicht mehr lange weiter über diese Person nach.

Es gab Zeiten, in denen Sie kaum aus dem Haus gingen aus Angst vor den Reaktionen des Umfelds. Kamen Ihnen die vielen Probleme, die dem Gang in die Freiheit folgten, manchmal wie eine zusätzliche Strafe vor?
Ja. Es gab auch Menschen, die mir sagten, ich hätte ein negatives Karma. Irgendwann stellte ich mir tatsächlich die Frage, ob ein Fluch auf mir lastet. Doch ich wehrte mich gegen diese Vorstellung und wusste, dass ich fähig bin, das Blatt zu wenden. Ich habe mir gesagt: Diese Menschen gehen in Konfrontation mit mir, aber ich nicht mit ihnen. Relevant war die Entscheidung, dass es letztendlich um meine Bedürfnisse und Ziele gehen muss – nicht um die Anliegen jener, die mich kritisierten und verurteilten. Ich habe also versucht, mich diesen extrem negativen Einflüssen zu entziehen. Ich zog mich zurück, ohne wegzulaufen, ich brachte mich in Sicherheit, um mich zu erholen, Kraft zu schöpfen und auch um über manche Schäden hinwegzukommen.

Welche genau?
In vielen Artikeln stand, ich sei so eine Art Liebes- oder Sexsklavin gewesen, und dieses Bild haftete mir lange Zeit an. Das hatte zur Folge, dass auch mein Selbstverständnis als Frau angeknackst war. Aufgrund der Vorkommnisse in der Freiheit habe ich mich lange Zeit nicht getraut, feminin aufzutreten oder freundlich und liebevoll zu sein; weil ich Angst hatte, dass man dies sofort verwechseln könnte mit einer Übersexualisierung aufgrund der Gefangenschaft. Solche Vorurteile setzten mir zu, weil ich ein eher reservierter Mensch bin und diese Behauptungen meine Zurückhaltung noch verstärkten.

Sie mussten ein Bild korrigieren, das nicht den Tatsachen entsprach?
Aber zuerst wurde ich zu einer faden, prüden, blutleeren Person, die mir überhaupt nicht entsprach. In der Zwischenzeit konnte ich mich emanzipieren und davon befreien. Dies gelang auch, weil ich die Möglichkeit, mit Menschen Kontakt haben zu dürfen, trotz allem immer als Geschenk empfand. Die negative Auseinandersetzung mit ihnen brachte also nicht nur Schmerz, sondern auch wertvolle Erkenntnisse.

Wie verlief dieser Prozess?
Anfänglich habe ich es manchen Menschen verübelt, dass sie meine Situation nicht differenziert beurteilten. Ich war empört, unglücklich, verzweifelt, habe mit mir gerungen, mich selbst nicht wohlgefühlt. Dann habe ich mir überlegt, warum sie so reagieren. Heute weiss ich, dass mein Schicksal bei manchen einen wunden Punkt in der eigenen Biografie getroffen hat und deshalb derart vehemente Reaktionen auslösen konnte. Es bestand aber auch zusätzlicher Erklärungsbedarf: Aufgrund des ersten Buchs haben mich bereits viele Leser und Leserinnen kontaktiert und mich wissen lassen, dass sich ihre Ratlosigkeit aufgelöst hat, sie meine Geschichte jetzt besser nachvollziehen können.

Der Täter hat Ihnen die Kindheit und die Jugend geraubt. Kann man mit Blick auf die zurückliegenden Jahre sagen, er hat Ihnen auch das Weiterleben in der Freiheit erschwert?
Meine Biografie wäre sicher anders verlaufen, wenn es diesen Mann nicht gegeben hätte, und ich wäre auch anders verwurzelt im Leben. Viele Probleme hätte ich nicht gehabt, viele Enttäuschungen nicht erfahren. Aber auch den persönlichen Reifungsprozess hätte ich in dieser Art und Weise nicht vollziehen können und nicht vollziehen müssen, weil keine Dringlichkeit bestanden hätte.

Fällt es schwer, ohne Bitterkeit auf das Gewesene zu blicken?
Das Gegenteil ist der Fall. Es liegt in meiner eigenen Verantwortung, an den negativen Dingen etwas zu ändern. Das habe ich getan und damit auch bewiesen, dass ich längst kein Opfer mehr bin. So gesehen, erhielt ich durch meine Geschichte auch eine einzigartige Chance: hinter die Kulissen der sogenannten Freiheit zu blicken und mich mit diesem Thema kritisch und konstruktiv auseinanderzusetzen.

Was macht Sie in Ihrem Leben glücklich, was gibt Ihnen Energie und Zuversicht für die Zukunft?
Ich versuche, das Grosse und Ganze nicht aus den Augen zu verlieren, nehme am Leben von anderen Menschen teil und auch daran, was auf dieser Welt geschieht. Ich denke an die Generation meiner Grosseltern und Urgrosseltern, die viel durchmachen mussten und grosse Umbrüche sowie Katastrophen überlebten. Das Nachdenken über solche Dinge relativiert auch mein eigenes Schicksal.

Natascha Kampusch: 10 Jahre Freiheit. List-Verlag, 2016, 240 Seiten, ca. 29 Franken Natascha Kampusch: 3096 Tage. Ullstein-Verlag, 2012, 288 Seiten, ca. 15 Franken

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