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Wie ein Mann in der Ukraine Vögel vor dem Krieg rettet

Zeitgeist

Wie ein Mann in der Ukraine Vögel vor dem Krieg rettet

Viktor Shelvinskyi kümmert sich in der Ukraine um die geflügelten Kamerad:innen der Menschen, die fliehen mussten. Tiere zu retten, steht für ihn nicht im Widerspruch dazu, Menschen in Not zu helfen – im Gegenteil.

Viktor Shelvinskyis Garten am Rande der westukrainischen Stadt Lviv sieht aus wie das Gelände eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobile aus Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern und da drüben eine selbst gebaute Hütte mit einem grossen, in den Fussboden eingelassenen Aquarium. Das Areal ist nicht riesig, doch einmal betreten wirkt es endlos. In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder grössere Volieren, dazwischen stolzieren Pfauen.

Seit in der Ukraine Krieg herrscht, finden hier nicht mehr nur einheimische Vögel ein Refugium, sondern auch solche aus fernen Ländern, die zuvor als Haustiere gehalten worden sind. Menschen, die aus dem Osten des Landes flohen, hatten von Shelvinskyis Arbeit gehört und brachten sie her: Halsbandsittiche, einen Graupapagei, Salomon-Kakadus.

Im Krieg haben alle die gleichen Probleme

Viele Ukrainer:innen konnten ihre geflügelten Haustiere auf der Flucht nicht mitnehmen, wollten sie aber auch nicht einfach zurücklassen. Wenn Bomben einschlagen, können wilde Tiere im besten Fall fliehen. Aber was ist mit jenen, die in vier Wänden gehalten werden und darum vollkommen von ihren Besitzer:innen abhängen?

Im Krieg, sagt Viktor Shelvinskyi, hätten sie im Grunde die gleichen Probleme wie die Menschen. Es mache keinen Sinn, die Schicksale von Mensch und Tier gegeneinander auszuspielen – die beiden hängen zusammen. Bei ihm jedenfalls sind alle willkommen: In den ersten Kriegsmonaten nahm er 16 geflüchtete Menschen auf sowie deren Hunde und Katzen. Inzwischen sind die meisten längst weitergezogen nach Westeuropa oder in sicherere Regionen der Ukraine. Geblieben aber sind viele Vögel – sie sind Shelvinskyis Steckenpferd.

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«Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner eigentlichen Arbeit um verletztes Geflügel»

Viktor Shelvinskyi liebt Vögel seit seiner Kindheit. Wenn er über sie redet, strahlen seine Augen. Sogar pfeifen kann er wie einer. Der 46-Jährige ist Ornithologe und arbeitet an der Nationalen Akademie der Wissenschaften sowie am Naturkundemuseum von Lviv.

Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner eigentlichen Arbeit – ornithologische Forschung sowie die Gestaltung des Museums – um verletztes Geflügel, das er findet oder Leute ihm bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche. Oft haben sie gebrochene Beine oder Flügel, können aber nach einer Weile wieder weiterziehen. Er lässt sie dann frei und geniesst diesen Moment, als würde auch ein Teil von ihm losfliegen. Manche Vögel kommen weiterhin ab und zu vorbei – um sich füttern zu lassen oder auch einfach auf einen Besuch.

Ein Zuhause für 286 Tiere aus 53 verschiedenen Arten

Schon seit vielen Jahren kursiert Shelvinskyis Nummer in den sozialen Medien. Besorgte Menschen rufen ihn an, wenn sie zum Beispiel in ihrem Schuppen eine verschreckte Eule finden. Mit Ruhe, Witz und Freundlichkeit stellt er dann fachkundige Fragen: Wie verhält sich das Tier, wie sehen seine Pupillen aus? «In 90 Prozent solcher Fälle muss man gar nichts tun», sagt er, «ich erkläre dann, dass sich die Eule nur vor dem Regen versteckt hat und alleine klarkommt.»

Seit dem Krieg aber wird Shelvinskyi deutlich häufiger kontaktiert, im März vergangenen Jahres waren es oft 15 Anrufe am Tag. So viele Vögel wie jetzt musste er noch nie versorgen: 286 Tiere aus 53 verschiedenen Arten. Darunter ist eine Rohrweihe aus Saporischschja; sie hat sich den linken Flügel gebrochen. Die drei Steinkäuze aus Mariupol sind schon wieder gesund, müssen nur noch beringt werden, bevor sie losfliegen dürfen.

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«Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmässig»

Shelvinskyi berät sogar Ukrainer:innen, die aktiv im Krieg kämpfen: Immer wieder melden sich Menschen aus den umkämpften Gebieten, wenn sie verwundete Vögel finden. Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmässig und gibt ihm Tipps: wie man den Bruch verbindet oder dass man dem Adler notfalls statt Fleisch rohes Hühnerei oder Insekten zu fressen geben kann.

Shelvinskyi wurde auch konsultiert, als man in der verlassenen Villa einer bekannten Sängerin mehrere als Haustiere gehaltene Vögel fand, um die sich jemand kümmern musste. Und sogar der Kyiver Zoo schickte ihm im Frühjahr 2022 Dutzende Papageien und tropische Tauben, die dort nicht mehr sicher waren.

Ein beheiztes Winterquartier für Papageien

Eigentlich wollte Viktor Shelvinskyi nie exotische Tiere halten, aber jetzt ist er froh, dass er mit seiner besonderen Expertise nützlich sein kann. Gewisse Vögel konnte er weitervermitteln, einige Papageien aber bleiben bei ihm. Für sie hat Viktor Shelvinskyi extra ein beheizbares Winterquartier gebaut, aus alten Fenstern und mit einer Dämmung aus Mineralwolle, die er in Bauabfällen fand.

Das mag improvisiert sein, erfüllt aber seinen Zweck und fügt sich auch optisch gut in seine ausgefallene Gartenlandschaft ein. Das Polycarbonat fürs durchsichtige Dach wurde durch Spenden finanziert, die die ukrainische Tierschutz-NGO UAnimals ihm zu sammeln half.

«Geld möchte Viktor Shelvinskyi für seine Dienste nicht»

Eine der neuen Bewohnerinnen des Papageien- Hauses ist Jagoda, ein blaurotes Salomon-Edelpapageien- Weibchen. Seine Besitzerin Anna, eine Übersetzerin aus Lviv, zog mit ihren Kindern wegen des Krieges nach Brüssel.

Sie weinte, als sie Jagoda zurückliessen. Aber sie konnten das Tier nicht mitnehmen – zu aufwändig ist die Pflege grosser Papageien, zu kompliziert wäre der Transport. Sie brachten Jagoda zu Shelvinskyi, den sie über Freunde kannten – und baten ihn, in Kontakt zu bleiben, bis sie eines Tages zurückkehren und Jagoda wieder selbst versorgen können.

Den Menschen helfen

Jetzt schickt er ihnen per Viber-Messenger regelmässig Videos, Fotos oder Tonaufnahmen, auf denen ihr Haustier «Hallo, Jagoda» plappert. «Das ist ein bisschen wie Telefonsex», scherzt Shelvinskyi. Für die Familie sei das aber ganz wichtig und helfe ihr, mit der schlimmen Situation klarzukommen.

Geld möchte Viktor Shelvinskyi für solche Dienste nicht, zumal viele sich das gar nicht leisten könnten. Auch die Führungen, die er für Schulgruppen geflüchteter Kinder aus der Ostukraine anbietet, sind kostenlos. Sie finden in seinem Garten statt; er zeigt dann Vogelnester, unterschiedliche Tierschädel und erzählt, wie man einheimische Tierarten unterscheiden kann.

Die Einblicke ins Leben der Vögel und überhaupt die Nähe zur Natur tue seinen jungen Besucher: innen gut, sagt Shelvinskyi. Viele der teils durch den Krieg traumatisierten Kinder blühten regelrecht auf, könnten sich hier ein bisschen erholen. Das bestätigt den Vogelflüsterer in seinem Engagement und in seiner Meinung: «Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen.»

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Niko

Als großer Vogel-Beobachter macht mich diese Nachricht sehr glücklich. Ich hoffe sein Heim und Reservat bleibt von Kampfhandlungen verschont. Danke für das Teilen dieser Nachricht. Liebe Grüße, Niko