annabelle-Redaktorin Stephanie Hess findet: Auch wenn Kompromisse an Sexiness verloren haben – wenn wir keine mehr finden können, verlieren wir alle.
Ihr Freund wollte nicht bei ihr einziehen, so habe sie sich halt von ihm getrennt, erzählt mir eine Bekannte beim Kaffee. Die beiden waren, so schien es zumindest, frisch verliebt, passten gut zusammen, hatten gemeinsame Ziele, ein ähnliches Umfeld. Mit ironischem Unterton, aber deswegen nicht weniger ernsthaft, fügt sie an: «Ich mag einfach keine Kompromisse.» Ähnlich beschrieb unlängst eine Journalistin eines Onlinemagazins ihre Schwierigkeiten bei der Beziehungssuche: «Besonders Kompromisse tun mir weh – wenn ich einmal für einen Partner einen eingehe, fühlt sich das für mich wie das Untergraben meiner eigenen Bedürfnisse an.»
Kompromisse schmecken heute schlecht. Nach Charakterschwäche, nach Feigheit, nach Prinzipienlosigkeit. Und sie stehen fortwährend im Verdacht, faul zu sein.
Eigentlich gelten Kompromisse als urschweizerische Tradition, doch selbst in der Politik sind sie in Verruf geraten. Das zeigen die zähen Verhandlungen im Parlament, wie jüngst bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Seit 2007 nimmt die Konsensfähigkeit konstant ab. Heute wird im Nationalrat weniger als die Hälfte aller Gesetzesvorlagen von allen Bundesratsparteien unterstützt. In den Neunzigerjahren waren sie sich noch in rund sieben von zehn Gesamt- und Schlussabstimmungen einig. Ein zentraler Grund dafür sind die stärker an die radikalen Ränder rückenden Parteien, das beobachten Politologen wie Claude Longchamp schon länger. Dass Politikerinnen und Politiker Abgründe überwinden, verhandeln und Lösungen schmieden, wird dadurch immer schwieriger.
Nicht nur in der Politik, auch in Wirtschaft und Gesellschaft haben Kompromisse an Sexiness verloren. Vor zehn Jahren begannen sich Slogans rund um den Heroismus der Kompromisslosigkeit auch in der Werbung zu häufen: «Kompromisslos anspruchsvoll», «Fleisch ohne Kompromisse», «Echter Geschmack. Null Zucker. Null Kompromisse».
Ein Kompromiss, das schwingt hier mit, verwehrt uns etwas. Etwas, von dem wir glauben, dass es uns zusteht. Äussert sich darin die oft beklagte gesellschaftliche Entwicklung hin zum egozentrischen Individualismus? Oder haben wir schlicht einmal mehr die Lesart der Amerikaner übernommen? In den USA versteht man nämlich unter dem Begriff «compromise» nicht zwangsläufig etwas Positives – sondern auch eine Notlösung oder Gefährdung. So oder so: Wenn wir keine Kompromisse mehr finden können, verlieren wir alle – weil wir stagnieren. Schillernde Ideale allein bringen nichts in Bewegung. Es sind die Zugeständnisse, die wir machen, die ein Land, eine Beziehung, uns selber weiterbringen. «Ideale können uns etwas Wichtiges darüber sagen, was wir gern wären. Kompromisse aber verraten uns, wer wir sind», schreibt der israelische Philosoph Avishai Margalit.
Wir vertreten unterschiedliche Ansichten, glücklicherweise! Überall dort, wo Menschen ein gemeinsames Ziel anstreben, ist ein Weg ohne sorgfältig geschmiedete Kompromisse nicht zu haben.
Vielleicht müssen wir es so sehen: Wenn wir ein Stück von unseren Überzeugungen abrücken, heisst das nicht, dass wir sie aufgeben. Wenn wir klug und umsichtig verhandeln, dann legt sich ein Kompromiss zwischen Menschen, zwischen Meinungen wie ein Scharnier: Er verbindet eigenständige Elemente. Und macht so gemeinsame Ziele erst möglich – in der Politik und in der Liebe.