Ohne Gott oder den Glauben an ihn steht der Mensch ziemlich einsam da. Dachte auch unsere Autorin – und versuchte irgendwo anzudocken. Mit mässigem Erfolg.
«Ich bin katholisch aufgewachsen und habe mein halbes Leben gebraucht, um darüber hinwegzukommen.» Das ist meine Standardantwort, wenn mich wieder einer fragt, welchem Glauben ich denn angehöre. Ich werde häufig gefragt. Ich nehme an, das liegt nicht nur daran, dass ich in Irland wohne, wo so ziemlich alle meinem alten Klub angehören. Auch diejenigen, die Stein und Bein schwören, dass sie ihn «eigentlich» längst verlassen haben. Na klar. Ich meine: Wir haben 2017, das Cern und den Murphy-Report. Wer bekennt sich da noch gern zu einer göttlichen Macht im Allgemeinen und zum katholischen Klimbim im Besonderen? Eigentlich. Andererseits steht man ohne Gott, irgendeinen, oder doch wenigstens den Glauben an ihn ziemlich einsam da. Nicht nur in Irland. Oder sonst in irgendeiner Gesellschaft. Sondern auch ganz für sich, überhaupt.
Ich bin vor 17 Jahren aus der katholischen Kirche aus- und in keine neue eingetreten. Wenn ich mich unter meinen Bekannten umsehe, ist das eher ungewöhnlich. Wer irgendwo austritt, tritt – in den meisten Fällen – anderswo wieder ein. Buddhismus, Indianerglauben, Feng Shui. Es gibt so viele Krücken, die sich uns anbieten, an ihnen durchs Leben zu hinken. Immer auf der Suche nach und auf dem Weg zu uns selbst. Ich weiss das. Ich habe ein paar von ihnen probiert. Noch bevor ich dem Katholizismus den Rücken kehrte. Ich wollte mir, wie die meisten von uns, einen neuen Hafen zum Anlegen sichern, bevor ich den alten verlasse.
Ich las im tibetischen Totenbuch und die gesammelten «Ich-vögelte-fünfhundert-Frauen-und-wurde-erleuchtet!»-Werke des dänischen Lamas Ole Nydahl. Der war unter westlichen Buddhisten und solchen, die es werden wollten, Anfang der Neunziger gerade akut. Ich ging sogar zu einer von Nydahl geleiteten Meditation. Oder Vortrag. Ich weiss nicht genau, was das war. Kostete 15 Franken Eintritt, was mich skeptisch stimmte. Ich dachte dann aber: «Mit seinem Glauben darf man nicht knausern!» Und richtig: Der Saal war gerammelt voll. Fünfhundert oder noch mehr Leute. Vor ihnen, auf einer Bühne, sass der Lama im Schneidersitz, oben ohne, in kurzen Hosen, und spielte mit seinen Muskeln. Ich dachte gutmütig: Klar, mit Beten und dem Versprechen auf Unsterblichkeit allein kriegt keiner fünfhundert Frauen ins Bett! Kann aber sein, dass ich da falsch lag. Auf jeden Fall sah der Lama blendend aus. Und dabei hätte er es meinetwegen gerne belassen können. Was mich schliesslich an ihm störte, war, dass ich den vielen schönen, bunten Wörtern, die er dort oben entliess, keinen Sinn abringen konnte. Das geht mir – man sei meiner Seele gnädig – mit Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama, mittlerweile genauso.
Ich meine: der Mann kichert sehr viel. Und er sagt seltsam schleierhafte Sachen. Darum gilt er als der weiseste Mann der Welt. Seine Sprüche werden weltweit auf weichgezeichnete Schmetterling-Blumen-Fotos gedruckt und sind in Arztpraxen, an Toilettentüren und auf Facebookwänden zu sehen. Besonders im Westen. Laut einer Umfrage der Zeitschrift «Geo» ist der Dalai Lama «die Persönlichkeit, die die meisten Deutschen bewundern». Daran hat sich nicht viel geändert – nicht in Deutschland und gewiss nicht in der Schweiz. Klar, den Dalai-Lama-Gutfinden ist eine bombensichere Sache. So ein Bekenntnis findet man im Synonymlexikon nicht neben dem Begriff «Rebellentum» oder «Waghalsigkeit». Manch einer hängt sich lieber dem Dalai Lama an, als sich selbst aus dem gesellschaftlichen Fenster. Dann wiederum sagt viel von dem, was wir gut finden, wenig darüber aus, wer wir sind. Als vielmehr darüber, wer wir gerne wären. Oder: glauben zu sein. Ich meine: Eine Studie, in der man den Teilnehmern ein paar der unbekannteren Dalai-Lama-Weisheiten vorlegen würde und dazu fiktive Ergüsse des kürzlich verstorbenen Massenmörders Charles Manson, und die Probanden anschliessend auffordern würde, diese Zitate einem der beiden zuzuordnen, könnte darüber leicht Aufschluss geben. Hier ein Beispiel: «Drei Brüder gingen durch einen Wald, bis ihr Pfad von einem rasenden Fluss blockiert wurde. Die Brüder hiessen Furcht, Liebe und Mut. Schliesslich schafften sie es über den Fluss, indem sie ‹Furcht› ersäuften und ihn als Boot benutzten.» Man kann, wenn man will, Seiner Heiligkeit zugutehalten, dass er die Rede, aus der das Zitat stammt, nach fünf der für sie anberaumten dreissig Minuten beendete. Später fand man ihn schlafend, in einem Starbucks-Café. Vielleicht ist der alte Mann doch ganz okay.
Ich versuchte es mit Jüdinwerden. Der Rabbiner der ortsansässigen jüdischen Gemeinde fragte skeptisch: «Warum?» Wie kam ich dazu, vom Katholizismus zum Judentum übertreten zu wollen? Ausgerechnet? Ich sagte artig: «Weil ich finde, dass das Judentum die Mutter aller Religionen ist. Das Judentum war lange vor dem Katholizismus da. Und erst recht vor den Protestanten. Alles ist aus dem Judentum entstanden.» Der Rabbiner rief: «Kommen Sie gleich am Freitag in die Synagoge!» Die Feier gefiel mir. Statt des trockenen katholischen Manna gab es Mehrkornbrötchen. Und einen schmackhaften kleinen Schnaps. Ich mochte es, wie sich alle herzten und küssten und einander «Gut Schabbes» wünschten. Es wurde sogar gelacht. Für den Augenblick gab mir das ein Gefühl von Familie. Von Zugehörigkeit. Heimat. Leider weigerte sich der irische Katholik, mit dem ich zu der Zeit verheiratet war, mich bei meinen Synagogenbesuchen zu begleiten. Er wollte die Kipa, das jüdische Gebetsmützchen für Männer, nicht tragen. Er verkündete ausserdem, seine irisch-katholische Familie müsste wahnsinnig werden, würde seine Frau Jüdin. Ich musste mich für eine Zugehörigkeit entscheiden und liess das Judentum sausen. Drei Jahre später wurde ich vom Iren geschieden. Vielleicht wäre ich mit dem Rabbi länger glücklich gewesen.
Ich schlief bei den Mönchen in Taizé auf schimmeligen Matratzen und liess mich von gregorianischem Singsang wecken. Ich trieb Kühe mit Cowboys in Idaho und ritt junge Pferde ein. Bei den Kühen und Pferden hat es mir gefallen. Ich fand dort sogar etwas. Die Erkenntnis, dass meine damalige Ehe, die zweite, zu Ende war. Ich meine: Das ist kein schlechtes Ergebnis. Es brachte mich zwar nicht spürbar näher zu Gott, aber sehr nahe zu mir. Viel näher, als ich mir in den vorangegangenen Jahren jemals gekommen war.
Ich fing an zu singen, Jazz und Blues und nahm Gesangsunterricht bei einem, der, nicht Ire, aber trotzdem katholisch war. 85 Jahre – so was kriegst du nicht mehr raus. Singen konnte er. War, bevor er nach Irland ging, zwanzig Jahre Tenor gewesen am Staatstheater St. Gallen. Ganz alte Garde, herrlich besessen, in jeder Hinsicht. Einmal, als ich mich und ihn über Stunden mit «Freude, schöner Götterfunken» quälte, knurrte er entnervt: «Nun sing das doch mal mit Seele! Oder hast du keine?» – «Nö!», blaffte ich zurück. Und er: «Na, das ist ja dann nicht mein Problem!» Alles in allem waren das prächtige Stunden. Ich machte damit ähnlich gute Erfahrungen wie mit dem Kühetreiben und Pferdeeinreiten. Nur, dass ich schon nicht mehr verheiratet war.
Nachdem es nun selbsterfahrungsweise so gut lief, fand ich, ich könnte mich mal in einen Yogakurs wagen. Zehn Abende zu fünfzig Franken. Ich ging hin, obwohl ich dachte, dass Yoga eigentlich nichts für mich ist. Ich dachte es bis zu dem Abend, an dem die Yogameisterin in unsere Stundenabschluss-Trance hineinsang: «Geht es dir guuut in deinem Leben? Hast du ein Heiiim, in dem du dich geborgen fühlst? Hast du einen Partner, der dich tiiief und innig liebt?» Ich schlug augenblicklich die Augen auf. Ich hätte gerne zurückgefragt: «Und was, wenn ich jetzt in Tränen ausbreche?» Ich fragte nicht. Ich fürchtete, sie würde sagen: «Nanana! Da bin ich aber jemandem ganz schön auf die Füsse getreten!» Immerhin weiss ich jetzt sicher, dass Yoga nichts für mich ist. Ich singe lieber.
Darüber hinaus schaffe ich es, nicht nach einer Krücke zu greifen. Der Satz kann so oder so gelesen werden. Je nachdem, wo man das Komma setzt. Es gibt Tage, an denen meine ich ihn so. Und Tage, an denen meine ich ihn anders. Es gibt Tage, an denen wäre ich gern in der Lage, zu glauben, fühlte ich mich gern verwurzelt – irgendwo. Ich glaubte dann gern an eine höhere Macht. An eine tiefere Bedeutung. Des Daseins, meines und das aller anderen. An Gott. Ein Leben nach dem Tod. So ein Glaube würde mir das Leben erleichtern. Ich würde mir nicht mehr so viele Fragen stellen. Oder: Ich hätte leichter eine Antwort auf sie. Ich würde mir meine Fragen im Behagen stellen, die Antworten eigentlich schon zu kennen. So, wie man zum Arzt geht, einzig um sich bestätigen zu lassen, dass man gesund ist.
Doch allen vermuteten Glaubensvorzügen zum Trotz: Ich schaffe es nicht. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe ich mich ja nicht mal verliebt. Ich habe es versucht, es gelingt nicht. Einer der letzten Männer, mit denen ich ausging und den ich als verliebenswert eingeschätzt hatte, tat mir im Laufe des Abends so leid, dass ich fast anfing zu weinen. Ich hielt das für keine gute Basis. Ein Fortschritt. Fünfzehn Jahre zuvor, und ich wäre binnen Jahresfrist mit ihm verheiratet gewesen. Und vielleicht war das der Grund für meine Beinahe-Tränen an jenem Abend: Die Ahnung, dass ein sich über alle Vernunft hinweg blindlings Verlieben, der trotzige, gegen jede Einsicht anwütende Glaube an das Unglaubliche mir nicht mehr möglich war.
In einem Interview mit Richard Dawkins, dem britischen Biologen und Autor des Buches «Der Gotteswahn», las ich, dass die Fähigkeit zu religiösem Glauben in den gleichen Bereichen des Gehirns gründe wie die Fähigkeit, sich zu verlieben. Nach meinen Erfahrungen oder eher: Nichterfahrungen der vergangenen zehn Jahre halte ich das für eine glaubwürdige Theorie. Möglicherweise schafft es der, der nicht mehr zu glauben schafft, auch nicht mehr, sich zu verlieben. Vielleicht ist das Bedürfnis, zu glauben, wie das Bedürfnis, sich zu verlieben, nur eine Phase. Die man in seinem Leben durchlaufen und überwinden muss. Auf dem Weg zu sich selbst. Und je näher man sich kommt, umso geringer das Bedürfnis. So denke ich an den guten Tagen.
An den schlechten erinnere ich mich an ein Interview mit einem Schweizer Autor, dessen Namen ich, Asche auf mein Haupt, vergessen habe. Er hatte einen Fragebogen entworfen, und eine der Fragen (die, über die ich seither immer mal wieder nachdenken muss) ging etwa so: «Was wäre schlimmer für Sie: Wenn sich niemand mehr in Sie verlieben würde? Oder wenn Sie sich nicht mehr verlieben könnten?» Die Frage macht mir Sorgen. Über sie nachzudenken, versetzt mich in eine Unruhe, von der ich mir wünschte, ich hätte sie überstanden. Ich bin mir über die Antwort keineswegs im Klaren. Ich meine, ob du an Gott glauben willst, einen kichernden Lama oder dir einfach nur deine sterbliche Seele raussingst: Keiner von uns steht gern ganz alleine da.