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«Wer seine Wurzeln kennt, muss keine Angst vor dem Fremden haben»

Leben

«Wer seine Wurzeln kennt, muss keine Angst vor dem Fremden haben»

  • Interview: Frank Heer; Fotos: Dan Cermak

Karin Niederberger ist die höchste Jodlerin der Schweiz. Ein Gespräch über Volksmusik, die Macht der Tracht – und warum beim Jodeln alle die Hände in den Sack stecken.

Milchreis! Da muss man von Zürich ins Bündnerland fahren, um ordentlichen Milchreis zu bekommen. Einen, der lange köchelte, auf niedriger Flamme, mit Zimt und Zucker und frischem Zwetschgenkompott serviert. Etwas ungewohnt für mittelländische Verhältnisse ist das Hobelfleisch als Beilage, doch Karin Niederberger insistiert, das passe wunderbar. Das Beste aber, sagt sie, sei die Kruste am Boden der Pfanne: Der Reis ist dort nur leicht angebrannt und lässt sich gut mit der Kelle abschaben. Eine unverhoffte Delikatesse!

Natürlich sitzen wir nicht wegen des Milchreises bei Karin Niederberger (48) und ihrer Familie in Malix am Mittagstisch, auch wenn sich die Anreise allein deshalb gelohnt hätte. Frau Niederberger ist Präsidentin des Eidgenössischen Jodlerverbands (EJV), und wir sind hier, um mit ihr über Volksmusik, Brauchtum und die Macht der Tracht zu sprechen. Uns interessiert die erste Frau, die an der Spitze einer Organisation steht, die in der Schweiz seit über hundert Jahren punkto Jodeln den Ton angibt.

Als Karin Niederberger 2009 zur höchsten Jodlerin gewählt wurde, war das eine Sensation: Eine Frau mit sechs Kindern, hiess es vor ihrer Wahl mehr oder weniger unverhohlen, habe an der Verbandsspitze nichts verloren. Vielleicht unterschätzte man die Reformfreudigkeit des als konservativ geltenden Verbands. Vor allem aber unterschätzten viele den unermüdlichen Tatendrang, mit dem sich die gelernte Charcuterieverkäuferin daran machte, die Kruste vom Boden der Verbandspfanne zu schaben. Jedenfalls wurde sie in diesem Jahr zum zweiten Mal in ihrem Amt bestätigt. Einstimmig.

annabelle: Karin Niederberger, haben Sie heute schon gejodelt?
Karin Niederberger: Natürlich, ich jodle jeden Tag.

Woher kommt so ein Jodel eigentlich?
Tief aus dem Herzen. Von ganz innen.

Der alpenländische Jodel ist in den letzten hundert Jahren weit gereist. Sein Einfluss soll in über 30 Musikstilen zu hören sein, von den USA bis Australien. Sie, die Präsidentin des Eidgenössischen Jodlerverbands, sind im bündnerischen Malix geboren und geblieben. Sind Sie neidisch auf den Jodel, der so weit herumgekommen ist?
Gar nicht, ich fühlte mich einfach immer extrem wohl hier in der Schweiz mit ihrer ganzen Vielfalt und den unterschiedlichen Traditionen. Und wer seine Wurzeln kennt, muss keine Angst vor dem Fremden haben.

Doch es braucht auch den Blick von aussen, um die eigene Kultur verstehen zu können.
Auf jeden Fall. Wobei ich die letzten neun Jahre als Präsidentin des EJV so oft unterwegs war, dass ich die Schweiz neu kennenlernen durfte. Mit dem Blick der Bündnerin auf andere Regionen. Nehmen wir den Naturjodel mit all seinen regionalen Eigenheiten – den Berner Oberländer, Obwaldner, Nidwaldner, Muotathaler, Appenzeller –, damit verhält es sich wie mit dem Alpkäse: Er wird in der ganzen Schweiz anders hergestellt, aber das Grundrezept ist das gleiche und Teil unserer Kultur.

Was ist eigentlich «unsere Kultur»? Wofür steht für Sie die Schweiz?
Für Tradition, Fleiss und Präzision. Auf unseren Wohlstand dürfen wir uns aber nicht zu viel einbilden, den haben die Generationen vor uns erschaffen. Unsere Eltern und Grosseltern, die hart arbeiteten. Es ist unsere Pf licht, diese Arbeit zu würdigen und weiterzuentwickeln. Erst dann ist sie nachhaltig.

Unsere Jodlertradition war lange ein unverfälschtes Schweizer Markenzeichen, die Geistige Landesverteidigung in unsteten Zeiten. Heute gibt es eine solche identitätsstiftende Musik nicht mehr, auf die sich alle einigen können. Jodeln ist nur noch Teil eines sehr breiten Schweizfächers. Einverstanden?
Ja, das ist so. Aber Sie sehen ja, wie viele Leute an unsere Jodlerfeste kommen. Zu den letzten vier Eidgenössischen kamen jeweils mehr als 150 000 Besucherinnen und Besucher. Das zeigt mir, dass es an unserer Volkskultur noch immer ein ungebrochenes Interesse gibt.

Das «Urtümliche und Echte» erlebt gerade wieder eine Renaissance. Wenn man die alten Jodellieder hört, sind diese aber nicht wirklich urtümlich, sondern eine elaborierte Kunstform, die nach ganz strengen Vorschriften funktioniert.
Klar, es gibt Regeln, wie diese Lieder vorgetragen werden müssen, etwa, wie die Silben zu betonen sind oder dass sie nur von einer Handorgel oder einem Schwyzerörgeli begleitet werden dürfen. Schon die Gründung des Jodlerverbands vor mehr als hundert Jahren erfolgte ja aus dem Bedürfnis, das «Urtümliche und Echte» zu bewahren. Diese Suche nach den Wurzeln gewinnt heute wieder an Bedeutung.

Entspricht das Jodellied noch dem Zeitgeist? Es hat sich seit hundert Jahren kaum weiterentwickelt.
Es muss sich ja auch gar nicht weiterentwickeln. Es gibt und gab immer wieder Modeströmungen, die das Jodellied oder die Volksmusik für sich entdeckten, in den Neunzigerjahren war das Christine Lauterburg mit ihrem Techno-Jodel, heute sind es Trauffer oder Gölä. Dagegen habe ich nichts. Aber man darf nicht vergessen, dass das kurzzeitige Strömungen sind. Was bleibt, ist unser Verband in seinem Bemühen um Bewahrung und Weitergabe des echten Brauchtums.

Viele Leute kritisieren gerade dieses Bewahren, das Abschotten des Brauchtums durch Ihren Verband.
Zu diesem Thema gibt es auch bei uns immer lange Diskussionen, schliesslich wollen wir offen sein. Doch da gehen innerhalb des Verbands die Meinungen auseinander. Ich sagte einmal: «Wir wollen das Feuer weitergeben, nicht die Asche.» Das ist immer eine Gratwanderung, denn unser erstes Ziel ist die Pflege des Brauchtums. Die Weiterentwicklung findet auch ohne uns statt.

Was ist Ihr Arbeitspensum beim EJV?
Gut zwanzig Prozent.

Was tun Sie in der verbleibenden Zeit?
Mein Mann führt in Churwalden einen Betrieb für Landmaschinen, und ich unterstütze ihn, wo ich kann. Zudem bin ich Mutter von sechs Kindern. Solange die Jüngsten noch in der Schule sind, gibt es wichtige Aufgaben zuhause zu erledigen.

Ihre Wahl zur Präsidentin des EJV galt als kleine Sensation: Sie sind die erste Frau auf diesem Posten. Das war doch schon lange fällig, oder?
Klar, aber es hat sich vorher halt nicht ergeben.

Warum kandidierten Sie für das Präsidium? Steckte dahinter eine feministische Agenda?
Nein, überhaupt nicht. Der Verband stand an einem schwierigen Punkt, an dem niemand mehr die Führung übernehmen wollte. Ich dachte: Das kann es doch nicht sein, eine Organisation mit einer solch langen und reichen Tradition einfach so gegen die Wand fahren zu lassen. Also habe ich mich beworben.

Sie entsprechen nicht dem traditionellen Frauenbild: Sie sind geschieden, waren alleinerziehende Mutter, haben immer viel gearbeitet, auch als Unternehmerin und zeitweise als Politikerin für die FDP. Hat man Ihnen das vorgeworfen?
Natürlich. Als ich kandidierte, wurde mir vorgehalten, dass ich mit sechs Kindern nicht in der Lage sein würde, das Amt der Präsidentin auszuüben. Schliesslich bleibe eine gute Mutter zuhause am Herd und kümmere sich um die Erziehung. Das stiess mich wirklich vor den Kopf, weil ich diese Trennung zwischen einer Männer- und einer Frauenwelt nicht kenne. Abgesehen davon muss sich kein Mann, der Karriere macht, den Vorwurf gefallen lassen, dass er nicht genügend Zeit mit seinen Kindern verbringe. Ich bin in einem Landwirtschaftsbetrieb aufgewachsen, alle halfen mit, alle waren verantwortlich, gleichberechtigt. Mir wurde beigebracht, einen richtigen Beruf zu lernen und unabhängig zu sein. Da fiel ich schon ein wenig aus meiner heilen Welt. Und ich verstand plötzlich, wie wichtig Frauenorganisationen sind.

Sie sind eben doch eine heimliche Feministin!
Nein.

Was ist denn so schlimm an dem Wort? Ohne feministisches Engagement wäre in den Siebzigern das Frauenstimmrecht nicht angenommen worden.
Dafür bin ich auch dankbar. Was ich meine ist: Gleichberechtigung muss gelebt werden. Viele Familien funktionieren heute noch so, wie die Familie schon immer funktioniert hat. Wenn hier kein Umdenken stattfindet, diese alten Strukturen nicht aufgebrochen werden, helfen alle Frauenorganisationen der Welt nichts. Es braucht keinen Machtkampf zwischen Frau und Mann, sondern gegenseitigen Respekt.

Nach Ihrer Wahl wurden Sie schon fast als Reformerin gefeiert. Das fanden nicht alle cool, oder?
Nein.

Sind Sie reformfreudiger, als es die Basis wünscht?
Im Vorstand sind wir alle sehr reformfreudig, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu schnell handeln und zu viel wollen. Unsere Mitglieder müssen sich wohlfühlen, aber auch Mitverantwortung tragen.

Konnten Sie die Skeptiker überzeugen?
Meine zweite Wiederwahl in diesem Jahr zeigt deutlich, wie sehr ich von der Basis getragen werde: ohne Gegenstimmen und mit Standing Ovations.

Sie hatten der bekannten Schweizer Sängerin und Jodlerin Christine Lauterburg das Angebot gemacht, dem Verband beizutreten. Sie lehnte ab. Darüber waren vermutlich nicht alle unglücklich, oder?
Die meisten hätten sich gefreut, wenn sie unser Angebot akzeptiert hätte.

Lauterburg argumentierte, dass Vorschriften bei der Musik nicht ihr Ding seien. Sie könne nicht wie ein Blumenstrauss dastehen und sich bewerten lassen. Musik sei kein Sport. Verstehen Sie ihre Gefühle?
Unser Regelwerk ist sicher ein Punkt, der nicht allen gefällt. Aber so will es nun mal unsere Basis. Die Jodlerfeste sind Wettbewerbe, bei denen der Gesang und die Darbietung benotet werden. Wem das nicht gefällt, kann gern anderswo jodeln. Gleichzeitig sehe ich auch keinen Widerspruch darin, sich an die Regeln zu halten und ausserhalb des Verbands zu tun, was man will. Aber das Eidgenössische Jodlerfest unterliegt nun mal einem Wettbewerb mit klaren Regeln.

Warum ist der Wettbewerb so wichtig?
An jeder Mitgliederversammlung fragen wir: Wollt ihr die Klassierung und Bewertung beibehalten? Die Antwort ist Ja. Dieses Messen ist ja auch nicht schlecht: Unsere Mitglieder sind Laien. Da kann es ein Ansporn sein, wenn man sich mit anderen vergleicht, schaut, wie man es vielleicht besser machen könnte. Das heisst aber nicht, dass es immer so bleiben muss.

Könnte man es nicht wie die Filmfestivals machen, wo Filme gezeigt werden, die nicht im Wettbewerb laufen? Eine Freestylekategorie ohne Regeln?
Da rennen Sie offene Türen ein. Seit dem Jodlerfest in Davos 2014 haben wir genau das eingeführt. Seither gibt es eine Plattform ohne Jury, eine offene Bühne, wo die Musiker machen können, was sie wollen. Da darf ein Alphornbläser mit einem Balletttänzer auftreten. Mit oder ohne Tracht.

Sieht man heute im Jodlerverband eigentlich auch Mitglieder, die dunkelhäutig sind? Fremdsprachig? Dürfen Männer lange Haare haben?
Ja sicher, die binden sich die Haare einfach nach oben. Sie müssen einmal an ein Jodlerfest kommen! Es gibt bei uns auch Tätowierte und Dunkelhäutige … Leute aus allen Ecken der politischen Einstellung. Einzige Voraussetzung ist, dass sich die, die bei uns mitmachen, mit unserer Jodelkultur auseinandersetzen.

Und die Tracht anziehen.
Ja, im Reglement heisst es, dass die Tracht getragen werden muss.

In den Städten erwacht das Interesse an Volksmusik. Es finden plötzlich Stubeten statt oder Festivals, an denen tibetanische Mönche auf Zäuerli, den Ausserrhoder Version des Naturjodels, treffen. Die Städter sagen zwar Ja zur Volksmusik, aber Nein zur reinen Folklore. Verpasst man da nicht eine Chance, wenn der Verband an der Trachtenpflicht festhält?
Das kann man so sehen. Für unsere Mitglieder gehört die Tracht aber nun einmal dazu. Haben Sie schon mal eine anprobiert?

Nein. Die Appenzeller Tracht würde mir aber grad noch gefallen …
Sehen Sie, die ist doch wunderschön!

Warum haben beim Jodeln immer alle die Hände im Sack?
Das kommt von früher. Die meisten waren Bauern und Handwerker. Da hatte man halt schmutzige Hände, und das vertrug sich nicht gut mit einer Sonntagstracht.

Die Jodlervereine im Mittelland finden kaum Nachwuchs. Was wollen Sie gegen das Jodlersterben, vor allem in den Städten, unternehmen?
Dagegen kann ich nicht viel tun. Die Initiative muss von den betroffenen Vereinen kommen. Man darf nicht vergessen, wie die städtischen Clubs entstanden sind. Oft waren das Leute, die aus beruflichen Gründen vom Land in die Stadt gezogen waren und dort ihre eigenen Jodlergruppen gegründet hatten. Diese Menschen werden älter, sterben, der Nachwuchs interessiert sich nicht mehr gross dafür, wo die Eltern herkamen, fühlt sich nicht als Appenzeller oder Berner Oberländer, sondern als Zürcher oder Genfer. Warum sollen sie noch die Lieder der Eltern singen? Ich finde das nicht schön, aber wenn es die lokalen Gruppen nicht schaffen, für Nachwuchs zu sorgen, ist es halt irgendwann vorbei.

Unsere Volksmusik findet eher Worte und Töne für gute Zeiten als für schlechte. Warum ist das so?
Es gibt Ausnahmen, etwa bei den Appenzellern. Da steckt auch viel Melancholie in der Musik. Aber es stimmt, der grosse Teil unserer Musik ist harmonisch. Ich glaube, dass sich unsere Vorfahren durch das Positive in dieser Musik gestärkt fühlten, Kraft daraus schöpften. Ihr Leben war hart und entbehrlich, gerade in den Bergen. Da wollte man sich die Sorgen mit einem schönen Lied vertreiben – das wäre eine Erklärung.

Karin Niederberger (48) ist die erste Frau im Präsidialamt des Eidgenössischen Jodlerverbands. Die Kleinunternehmerin, ausgebildete Sennin, Dirigentin, Hausfrau und Mutter von sechs Kindern lebt mit ihrer Familie in Malix GR.

 

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