Fernsehen. Oder: Totgesagte leben länger. Aber wer schaut was? Eine Kolumne von Thomas Wernli über intime Geständnisse am Mittagstisch.
«Dschungelcamp, wer schaut sich bloss so was an?», echauffiert sich eine Arbeitskollegin am Mittagstisch zwischen zwei Gabeln Tomatenspaghetti. Allgemeine Kau- und Schluckpause. «Äh, ich zum Beispiel», beantworte ich leise ihre rhetorische Frage. Sie verschluckt sich fast, und 14 Augen starren mich an: «Du? Dschungelcamp?» Ja, ich gestehe, ich schaue mir gern das RTL-Erfolgsformat «Ich bin ein Star. Holt mich hier raus!» an. Zusammen mit über sechs Millionen anderen Menschen, zwei Wochen lang, jeden Tag. Jeweils im Januar. Ekelhaft? Würdelos? Niveaulos? Wäh?
Nicht nur meine Arbeitskolleginnen sind ob meinen Fernsehvorlieben irritiert. Auch mein Mann hat Jahr für Jahr darunter zu leiden und rümpft die Nase, dass ich mir so was anschaue. «Hase, das ist einfach gute Unterhaltung», sage ich jeweils. Nein, das Käferessen finde ich nicht so amüsant. Ich sehe die Sendung eher als spannendes Psycho-Experiment. Denn die Zwangsgemeinschaft, die im australischen Dschungel ausgesetzt und rund um die Uhr gefilmt wird, ist sorgfältig zusammengestellt. Sodass es garantiert zu Konflikten kommt. Und ja, je eine Prise Voyeurismus und Schadenfreude gehört beim Betrachten der Stars dazu. Was solls! «Das sind doch keine Stars», empört sich auch mein Freund E. Hat ja auch niemand behauptet. Das gehört zum Konzept, und darüber macht sich auch das Moderatorenduo lustig. Der Sieger der diesjährigen, elften Staffel, Marc Terenzi, machte von Beginn an klar, warum er sich das antut: Er ist pleite. Die Promis der Klassen C bis Z erhalten ein gutes Honorar. Mitleid ist nicht angebracht. Und nein, man muss nicht wissen, wer Marc Terenzi ist, oder Honey, oder Kader Loth.
Wurde ich früher nach meinem Hobby gefragt, gab ich meist fernsehen an. Auch das hat Irritationen ausgelöst. «Du, eine Sofakartoffel? Wie langweilig!» Von wegen: Meine Vorliebe galt billig produzierten Serien, herzzerreissenden Kitschfilmen, überkandidelten Fernsehshows. Und nicht zuletzt Werbespots: die ganz grossen Gefühle! Dann kam das Internet, das Fernsehen wurde für tot erklärt. Heute schaut man Fernsehen im Internet.
Fernsehen verbindet. Man sitzt zwar allein vor einer Kiste, aber viele andere auch. Diese Gleichzeitigkeit ist das, was mich am meisten fasziniert. Alle wissen, wo sie am 11. September 2001 waren. Besser gesagt: vor welchem Fernseher. (Ausgerechnet ich war übrigens in einem Maiensäss ohne TV.) Oder ein netteres Beispiel: der «Eurovision Song Contest». Wie beim Dschungelcamp tauschen sich die Menschen darüber live über Social Media aus, sie twittern und simsen, was das Zeug hält. Ich auch: «Ist dieser russische Popjüngling nicht schnuckelig, Brigitte?» – «Ja, Thomas, aber er kann überhaupt nicht singen.»
Die Diskussion am Mittagstisch nimmt eine überraschende Wendung. Mit intimen Geständnissen. Evelyne schaut «Bauer, ledig, sucht …». Julia mag «Der Bachelor». Denise «Zwischen Tüll & Tränen». Und Bobi – Familienvater in den besten Jahren – «Spongebob Schwammkopf». (Hey, hab grad gelesen, dass die «Teletubbies» zurückkommen!) Und meine Chefin schaut – angeblich – «interessante wertvolle Dokumentationen » auf Netflix, ihrem neuen besten Freund. Schwärmt aber drei Tage später von «Bumann, der Restauranttester». Hat sie zufällig beim Zappen entdeckt und musste gleich drei Folgen schauen.
Auch ich gehe mit der Zeit. Kürzlich habe ich mir eine Netflix-Serie angeschaut. «Marco Polo». Auf DVD.