Etwas, das einem mal spassiger Lebenszweck war, macht einem plötzlich Angst. Und zwar so richtig. Unsere Autorin Antje Joel über ein Phänomen, das Hunderttausende von Menschen das Fürchten lehrt.
Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Ich werde meinen Fuss in den Steigbügel setzen, das Bein über den Pferderücken schwingen. Und dann! Wird Entsetzliches passieren! Wenn nicht gleich, dann irgendwann. Das Pferd wird bocken. Davonrasen. Es wird stolpern, stürzen, meinen Körper unter seiner 500-Kilo-Masse begraben. Das Herz schlägt mir in den Ohren und macht mich für alles um mich herum taub. Meine Hände kribbeln, die Innenflächen sind schweissnass.
Das Pferd steht gelassen unter mir da. Ich schlucke trocken und lege meine Gummibeine an seine Seiten. Das Pferd geht wie gewünscht los. Im gewünschten Tempo, in die gewünschte Richtung. Ich könnte mich entspannen. Den Ritt geniessen, wie ich ihn in meinen Vorstellungen vom Reiten geniesse: das Pferd und ich, eine Einheit in einer eigenen Welt. Unantastbar. Besser noch: unverwundbar. Leider ist das nicht so, wie Anxiety funktioniert. Anxiety geht so: Die Ruhe des Pferdes alarmiert mich. Ich denke: Je ruhiger es ist, umso mehr auf der Hut muss ich sein. Für den Ernstfall, der eintreten wird, ganz gewiss. Wenn ich mich jetzt entspanne, trifft er mich aus heiterem Himmel. Was es schlimmer macht – nicht den Ausgang, den male ich mir eh als den allerschlimmsten aus. Sondern weil es mich obendrein aussehen liesse wie einen blauäugigen Idioten. Heute ist der Tag, an dem ich sterben werde. Und ich sterbe nicht als Idiot.
Ein Anxiety-Anfall ist «ein Gefühl von Gefahr, das das sympathische Nervensystem in Gang setzt als Vorbereitung auf etwas, das (wahrscheinlich) niemals eintreten wird». An Anxiety – der Verenglischung der deutschen Angst – leiden Sie, wenn Sie, wie ich, dem Wort «wahrscheinlich» im letzten Satz (und der Tatsache, dass es hinterhältig in Klammern gesetzt steht) mehr Bedeutung beimessen als der Aussage des Satzes selbst. Noch bis vor 35 Jahren war Anxiety keine klinische Kategorie. Heute sind Angststörungen die im Bereich der psychischen Erkrankungen am zweithäufigsten gestellten Diagnosen, nach der Depression. 800 000 Menschen leiden in der Schweiz darunter, wobei Frauen rund zweieinhalbmal häufiger betroffen sind als Männer.
Über meine Angst zu schreiben, ist möglicherweise kontraproduktiv. Studien zeigen, dass die intensive Beschäftigung mit der eigenen Innenwelt in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung einer Angststörung steht. Was möglicherweise der Grund ist für den Anxiety-Anstieg in der westlichen Welt: Vielleicht sind wir gar nicht ängstlicher, als wir schon immer waren. Vielleicht empfinden wir uns nur als ängstlicher, weil wir uns auf unsere Angst fokussieren.
Oder ist es so, wie eine andere Fraktion von Psychologen vermutet: Kreierte die Pharmabranche die Diagnose – und mit ihr Milliarden Kunden? Allein in den USA verschreiben Ärzte fünfzig Millionen Mal pro Jahr das Anti-Angst-und-Panik-Medikament Xanax oder andere Medikamente mit dem Wirkstoff Alprazolam – das ist mehr als ein Rezept pro Sekunde. Auch in der Schweiz haben die Kosten der psychischen Erkrankungen schon vor fünf Jahren die Milliardengrenze überschritten – obwohl geschätzt nur dreissig bis fünfzig Prozent der Betroffenen überhaupt Hilfe suchen. Andererseits macht das Hinter-dem-Berg-Halten mit Ängsten erwiesenermassen noch ängstlicher.
Es hätte mich schlimmer treffen können, klar. Ich breche nicht in Schweiss und Tränen aus, wenn ich das Haus verlasse (Agoraphobie). Ich erliege keiner Panikattacke, wenn ich ins Auto oder Flugzeug einsteige (Amaxophobie, Aviophobie). Mich befällt keine Beklemmung bei der Begegnung mit anderen Menschen (Anthropophobie). Ich bin – im besten Sinn – gleichgültig gegenüber Tieren, die bei anderen Erstickungsanfälle auslösen und denen weit schwieriger aus dem Weg zu gehen ist, beispielsweise Insekten und Vögeln (Entomophobie, Ornithophobie). Ich fürchte mich nicht mal vor Pferden (Equinophobie). Auch nicht vor wilden. Meine Angst beginnt erst, wenn ich mich draufsetzen soll. Es gibt dafür, soweit ich sehen kann, in der langen Liste der Phobien keinen klinischen Begriff.
«Das überrascht mich nicht», sage ich zu meinem Therapeuten. Denn natürlich ist meine Angst nicht «diffus und unbegründet». Ich erkläre ihm, dass Reiten zu den gefährlichsten Sportarten zählt. In der Schweiz verunfallen jährlich 8000 Reiterinnen und Reiter. Knapp drei Tote gibt es pro Jahr im Schnitt, das sind zwar gleich viele wie beim Schneeschuhlaufen, über dreizehn Jahre genommen, aber immerhin mehr als beim Motorrennsport, Eisklettern, Velofahren und Eishockey zusammen das Zeitliche segnen. «Immer wieder lese ich in den Zeitungen über die neusten Reittoten: Runtergefallen und das Genick gebrochen. Beim Runterfallen vom Pferd in den Kopf getreten. Nach dem Runterfallen vom fallenden Pferd zerquetscht. Die Möglichkeiten, mit Pferd zu Tode zu kommen, sind endlos!» Der Therapeut lächelt, was mich etwas ärgerlich macht. «Die Angst vor dem Reiten ist keine Phobie», sage ich streng. «Sie ist eine grundvernünftige Sorge!»
«Lesen Sie etwa auch jede Woche nach, wie viele Menschen gerade beim Autofahren gestorben sind? Oder schwer verletzt wurden?», fragt der Therapeut. Ich halte das für einen blöden Vergleich. «Erstens», sage ich, «ist Autofahren notwendig. Zweitens, wenn schon das Autofahren lebensgefährlich ist, warum sollte ich ihm eine zweite, unnötige lebensgefährliche Tätigkeit hinzufügen?» – «Manche Menschen sterben im Schlaf …», sagt der Therapeut, und ich lese später, dass der Spruch eine zweite Hälfte hat: «… genau wie die Ambition.»
Als ich vor 25 Jahren mit Reiten anfing und mich auf dem ersten Ausritt nicht traute zu galoppieren, sagte mein Reitkumpel Erwin: «Man kommt auch im Trab durchs Leben, Antje, na klar.» Weil er natürlich recht hatte, lernte ich das Galoppieren und führte es ein paar Jahre meist angstfrei aus. Ich kaufte Pferde, in Paaren. Erst zwei, dann vier, schliesslich sechs. Ich kaufte sie jung und ritt sie selbst ein. Dann passierte etwas. Was, kann ich nicht genau sagen. Es war nichts Grossartiges. Kein Arm-, kein Beinbruch. Kein Gerade-so-eben-noch-mit-dem-Leben-Davongekommen. Ich weiss nur, es fing ganz klein, nahezu unmerklich an. Und wurde kontinuierlich grösser. Jetzt denke ich oft: Man kommt auch zu Fuss durchs Leben. Na klar.
Mein Therapeut nickt. «Wie fühlt sich das an, wenn Sie sich vorstellen, die Pferde zu verkaufen?» – «Scheisse», sage ich. «Bei der Vorstellung fühle ich mich wie ein Versager.» Wie eine, die nicht nur ihre Pferde im Stich lässt. Sondern vor allem sich selbst. «Und natürlich habe ich Angst vor noch mehr Ängsten», sage ich. Ich stelle mir Ängste vor wie eine Bande von fiesen Jungs: Jeden Schritt, den man vor ihnen zurückweicht, rücken sie nach. «Am Ende kann ich nicht mehr zur Therapie kommen, weil ich mich nicht mehr ins Auto traue.»
Meine Mutter ist ein sorgenvoller Mensch. In jungen Jahren schleppte eine Freundin sie mit zum Reitunterricht. Als der Reitlehrer sie aufforderte zu galoppieren, stieg sie vom Pferd, stapfte aus der Halle und kehrte nie mehr zurück. Natürlich beschränkte sie ihre Angst nicht aufs Reiten. Ihr allübergreifendes Lebensmotto ist: «Erwarte das Schlimmste! Wenn du Glück hast, kanns dann nur besser werden.» Mit der Betonung auf «wenn du Glück hast» und «kann».
Nun, ich bin oft überzeugt, dass – gerade in diesem Moment! – meinen Kindern etwas Furchtbares geschieht. Jede Sekunde werde ich sie in höchster Not nach mir schreien hören! Oder das Telefon wird klingeln, und das Erste, was ich daraus hören werde, wird ein herzzerreissendes Schluchzen sein! Die Erwartung lähmt mich. Ich wage nicht, mich zu rühren. Ich lausche auf den Schrei oder den Schluchz-Anruf, der nicht kommt. Diesmal nicht, denke ich. Manchmal habe ich Angst, meine Angst könnte das Schreckliche erst bewirken.
Liegt die Veranlagung zum Ängstlichsein in meinen Genen? Habe ich sie durch Beobachtung übernommen? Es gibt diesbezüglich keine Einigkeit unter Experten. Auch möglich: Ich bin zaghaft und sorgenvoll als Teil meiner Kultur. Das Englische kennt ausser Anxiety auch den Begriff German Angst. Er beschreibt zum einen jene «unbegründete, diffuse Furcht», die das Wesen der Anxiety ist. Zum anderen ein zur Schau getragenes generelles «Leiden an der Welt». Dass die englischsprachige Welt beides als charakteristisch für Menschen meiner Herkunft sieht – und, zumindest meiner Erfahrung nach, sind die Schweizer uns Deutschen da nicht unähnlich –, finde ich etwas beschämend. Geradezu blöd. Ich bin vielleicht etwas ängstlich, aber ich schlucke nicht, nach Amerikanerart, Sorgenpillen wie Smarties. Ich schlucke überhaupt keine Sorgenpillen. Ein- oder zweimal trank ich vor dem Reiten ein oder zwei Büchsen Bier. «Das entspannt», hatten die Reitkumpels versprochen. Tatsächlich bewirkte es eine gewisse Schwummrigkeit, die ich als zusätzliche Gefährdung empfand. Das machte mir Angst.
Ich versuchte anderes. Ich kaufte zum Beispiel folgende Bücher: «Reiten ohne Angst», «Keine Angst im Sattel», «Die Angst vor dem Reiten überwinden». Über die ersten paar Hundert Seiten kam ich in keinem hinaus. Die gesammelte Ängstlichkeit langweilte mich. Später las ich, ich war auf einem guten Weg. Ich hätte weiter-, hätte mehr Bücher lesen sollen: Sich seine Ängste zu wieder- und wiederholen, bis sie so langweilig wie lächerlich sind, ist eine bewährte Anti-Anxiety-Technik. Ich besuchte Reitkurse. Ich kaufte Pferde. Sättel. Reitzubehör. Das half mir zurück aufs Pferd, weil ich die viele Zeit und das viele Geld nicht umsonst investiert haben wollte. Quatsch, ich scherze. Tatsächlich gesellte sich zu meiner Angst das Gefühl von Schuld. Die beiden befeuerten einander prächtig.
Der Therapeut schlägt vor, es mit der Umprogrammierung meines Unterbewusstseins in Trance zu versuchen. «In Trance können wir exakt das Gefühl erforschen, das Sie befällt, wenn Sie auf dem Pferd sitzen. Dann geben Sie dem Gefühl einen Namen, meinetwegen Bonbon, und ich tippe Sie an und sage ‹Bonbon, flieg fort!›. Und das Gefühl fliegt fort. Wie klingt das für Sie?» – «Wie Humbug», sage ich und lache.
Aber tief in mir drinnen rührt sich eine neue Angst. Nämlich: Dass ich eine von denen bin, die nur behaupten, dass sie ihre Angst loswerden wollen. In Wirklichkeit halten sie an ihr fest wie an dem rettenden Strohhalm. Mir fällt der britische Serienmörder Dennis Nilsen ein. Nilsen, der 12 bis 15 Männer stranguliert und in seiner Badewanne ersäuft hatte, die genaue Zahl wusste er nicht mehr, sagte nach seiner Festnahme: «Ich hätte wirklich gern aufgehört mit dem Morden, aber leider hatte ich sonst kein Hobby oder etwas, das mir Freude machte.» Weil ich nicht der Dennis Nilsen der Anxiety-Kranken sein will und weil mein Therapeut grundsätzlich ein feiner Kerl ist, bleibe ich.
Ich erzähle, wie ich einmal für drei Monate in den Mittleren Westen der USA flog, um auf einer Ranch Jungpferde einzureiten und Kühe zu treiben. Ich begründete das damals damit, von den Besten lernen zu wollen. «Möglicherweise wollte ich mir aber nur beweisen, dass ich eine Niete bin», sage ich. «Sind Sie eine Niete?», fragt der Therapeut. «Ich glaube nicht», sage ich. «Vielleicht doch?», frage ich. «Wenn ich behaupte, dass ich keine Niete bin, komme ich mir vor wie eine Niete, die sich überschätzt.» – «Das ist Ihre Anxiety, die da spricht», sagt der Therapeut. Ich denke, dass er womöglich recht hat, weil sich mein Nietengefühl nicht auf das Reiten beschränkt. Ich kann auch nicht schreiben. Das heisst: Ich kann schon schreiben, aber nicht wirklich. Es ist kompliziertes Terrain. Barbra Streisand betrat wegen akuter Panikattacken 27 Jahre keine Bühne. Sie sang während dieser Zeit nur an karitativen Konzerten. Dort fühle sie sich, weil sie nicht bezahlt wurde, weniger unter Druck. «Aber natürlich will ich auf keinen Fall so lächerlich sein, mich mit Barbra Streisand zu vergleichen», sage ich schnell. «Verglichen mit ihr bin ich, auf meinem Gebiet, eine Niete. Vielleicht sogar überhaupt.»
Ich verbrachte den Flug nach Idaho halbwegs gelähmt, während des ersten Zwischenstopps weinte ich. Auf der Ranch raste ich zu Beginn jedes Arbeitstags ein paarmal aufs WC und überlegte jeweils, dort sitzen zu bleiben. Stattdessen sass ich etwas später auf dem Pferd, sah auf die grässliche Weite der Prärie hinaus und dachte: Quatsch! Natürlich wird das Pferd nicht in die Richtung und in dem Tempo gehen, die ich ihm vorgeben will, warum sollte es? Ich bin eine Mücke auf einem Elefanten. Auf einem Elefanten, der überall hingehen kann, in jedem ihm beliebigen Tempo. Ich harrte mit wild gewordenem Herzen und trockenem Mund des Moments, in dem das Pferd das begreifen würde – und ich sterben. In einem startenden Flugzeug denke ich Ähnliches: Das kann nicht funktionieren! 400 000 Kilo Metall und Kunststoff können sich nicht vogelgleich in die Lüfte schwingen, und wir werden es alle gleich schmerzlichst begreifen: Die wahre Ursache für hundert Prozent aller Flugzeugabstürze ist die Schwerkraft!
«Und doch sind Sie jeden Morgen aufs Pferd gestiegen», sagt der Therapeut. «Ich hatte keine andere Wahl!», rufe ich empört. «Hat das Pferd gebockt, ist es davongerannt?», fragt der Therapeut. «Mehr als einmal!», sage ich stolz. «Wie hat sich das angefühlt?», fragt der Therapeut. Ich sage, zu meiner Überraschung: «Okay.» Und das ist wahr. Immer wenn endlich eintrat, wovor ich mich so sehr fürchtete, wenn die Kacke so richtig am Dampfen war, fiel die Angst von mir ab. Oder: Ich fühlte sie vor lauter Dampf nicht mehr. Ich war zu beschäftigt, die Kacke zu meistern. In einer Studie der Staatsuniversität in Pennsylvania wurden Anxiety-Leidende unter anderem gefragt, wie sie jeweils reagiert hatten, als tatsächlich etwas Schreckliches geschah. 79 Prozent antworteten, dass sie besser mit der Situation umgehen konnten, als sie geglaubt hatten.
«Auf einem bockenden Pferd zu sitzen, fühlt sich tausendmal besser an, als auf das Bocken zu warten», sage ich. Und dann habe ich einen Dennis-Nilsen-Moment, in dem ich mich ein klein bisschen leer, fast betrogen fühle. Weil meine ganze Angst plötzlich so nichtig und ihre Bewältigung einfach scheint. Aber Gott sei Dank fällt mir ein, dass ich die schöne Erkenntnis noch umsetzen muss.
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