Es ist kurz nach Mitternacht. Zeit, ins Bett zu gehen. Ich klappe meinen Laptop zu, kuschle mich unter die Bettdecke, lasse die vergangenen Wochen Revue passieren. Seit knapp einem Monat bin ich in Levin, einem kleinen, verschlafenen Dorf auf der Nordinsel Neuseelands. Hier, knapp 20 000 Kilometer entfernt von Zuhause, verbringe ich mein elftes Schuljahr. Meine neuseeländische Gastmutter heisst Deborah, arbeitet als Biologielehrerin und plaudert lieber als sich zu bewegen. Boris, mein Gastvater, ist Feuerwehrmann, nur etwa 1.65 Meter gross und immer auf Draht. Mit meiner Gastfamilie hatte ich wirklich Glück, denke ich mir. Dann werden meine Gedanken immer diffuser, bis ich sie ganz verliere. Kurze Zeit später höre ich meinen Gastvater heimkommen. Er putzt sich die Zähne, füttert Cat, die Katze, und verschwindet in seinem Zimmer. Ich versinke wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Plötzlich schrecke ich auf, höre Lärm. Wieso trampelt Boris im Gang umher? Meine Schlafzimmertüre öffnet sich. Will mein Gastvater kontrollieren, ob ich bereits schlafe? Sähe ihm überhaupt nicht ähnlich … Im Türrahmen erspähe ich die Silhouette eines Mannes: ein schlaksiger Riese – definitiv nicht mein Gastvater! Der Unbekannte steuert auf mein Bett zu, zieht sich die Hosen aus. Es riecht nach billigem Parfum. Ich liege da wie erstarrt. Der Mann klettert über mich hinweg – und legt sich schlafen. Binnen weniger Sekunden fängt er an zu schnarchen. Mein Herz rast, ich wage es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Was passiert da gerade? Jetzt endlich fasse ich Mut. Ich stehe auf, knipse das Licht an und blicke auf den Typen neben mir. Er ist blond und wohl noch keine 18 Jahre alt. Keine Idee, wer dieser Typ sein könnte. «Hello?», sage ich schüchtern. Doch der junge Mann schläft viel zu tief, als dass er mich hören könnte. Es riecht nach Hochprozentigem – wahrscheinlich ist er sturzbetrunken.
Ratlos klopfe ich an die Schlafzimmertür meiner Gastmutter. «In meinem Bett liegt jemand.» Sie blinzelt verschlafen. «Du hast bestimmt nur schlecht geträumt», sagt sie, nimmt mich bei der Hand und führt mich in mein Zimmer zurück. «Schau, hier liegt – was! Hier liegt wirklich jemand! Ich hole Boris.» Als mein Gastvater den Eindringling sieht, weiten sich seine Augen. Entschlossen schreitet er zum Bett und schüttelt den Unbekannten. Doch dieser stöhnt nur leise und dreht sich auf den Bauch. Nun zerrt mein Gastvater den Eindringling am Shirt aus dem Bett. Der junge Mann überragt ihn um mindestens zwei Köpfe, ist dünn wie eine Bohnenstange; noch immer nur halb bei Bewusstsein. Meine Gastmutter bringt mich ins Wohnzimmer, wo sie Teewasser für mich aufkocht. Ich höre nur noch, wie mein Gastvater den Fremden aus der Türe stösst: «Go home!»
Sieben Jahre sind seit jener Nacht vergangen. Doch ich erinnere mich an sie, als wäre es gestern gewesen. Der nächtliche Vorfall wurde zur Lieblingsanekdote meiner Gasteltern. Und er schweisste uns zusammen. Ängstlicher wurden wir deswegen nicht. Aber ab jener Nacht schlossen wir immer beide Eingangstüren ab.
Mein Gastvater fand letztlich heraus, dass der nächtliche Eindringling ganz in der Nähe wohnte. In einem Haus, das demjenigen meiner Gastfamilie fast aufs Ziegeldach glich – nur eben eine Seitenstrasse weiter nördlich. Betrunken wie er war, hat er vermutlich versehentlich die falsche Einfahrt genommen. Ich sah ihn während meines Austauschjahres noch einige Male an unserem Haus vorbeigehen. Er wählte immer das Trottoir auf der gegenüberliegenden Strassenseite.