Wenn man in der Schweiz arm ist
- Aufgezeichnet von Jessica Prinz; Foto: asiseeit / Getty Images
Kathrin Reinhard (38) ist alleinerziehend und bezieht Sozialhilfe. Sie erzählt, wie es ist, wenn das Geld am Ende des Monats nicht reicht – und welche kleinen Dinge sie glücklich machen.
In zehn Jahren werdet ihr und die Arbeit, die ihr macht, sehr gefragt sein», prophezeite uns die Schulleiterin zum Ausbildungsbeginn. Damals war ich 17 und wusste noch nicht, dass ich als angehende Bewegungspädagogin schon mit einem Fuss in der Armut stand. Heute bin ich seit sechs Jahren von der Sozialhilfe abhängig. Und wenn man da mal drin ist – und das wissen ganz viele nicht –, kommt man fast nicht mehr raus.
Natürlich hinterfrage ich meine damalige Berufsentscheidung von Zeit zu Zeit. Letztlich entschied ich mich aber für eine Arbeit, die ich gern ausübe und die mich erfüllt. Aufgrund ihrer Körperhaltung sehe ich Menschen sofort an, wo sie später Probleme haben werden. Ich kann helfen, diesen vorzubeugen und ihnen eine ökonomische Körperhaltung beibringen. Dank meiner Ausbildung konnte ich schon an verschiedenen Orten arbeiten, habe viele Kulturen erlebt und Erfahrungen gesammelt, die mich persönlich weitergebracht haben. Vor zehn Jahren landete ich in Südfrankreich, wo ich einen Mann kennenlernte und bald überraschend schwanger wurde. Gemeinsam entschieden wir uns, das Kind zu behalten. Weil es mit uns beiden leider nicht klappte, kam ich zurück in die Schweiz. Ich arbeitete viel, hatte eine Zeitlang fünf Jobs gleichzeitig, ging putzen, arbeitete im Service und machte Ferienvertretungen als Bewegungspädagogin. Ende Monat reichte es finanziell trotzdem nie. Deshalb sind mein Kind und ich auf Sozialhilfe angewiesen.
Momentan bin ich wieder auf Arbeitssuche, mein heute sechsjähriger Sohn und ich müssen mit etwa 1500 Franken pro Monat über die Runden kommen. Einschliesslich die 80 Euro Alimente von meinem Exfreund. Davon müssen wir – exklusiv Miete und Krankenkasse – alles bezahlen. Materiell gesehen fehlt uns nichts, und solange wir etwas zu essen haben, bin ich eigentlich zufrieden. Die Schweiz ist aber in vielerlei Hinsicht nicht gemacht für Menschen, die wenig Geld haben. Das schlägt stark auf mein Selbstwertgefühl und fängt schon bei einfachen Dingen an: Ein Busabonnement ist viel zu teuer. Ich fühle mich ausgeschlossen, wenn ich andere nicht ins Restaurant begleiten kann. Ich stosse auch oft auf Unverständnis, wenn ich sage, dass ich mir einen Kinobesuch nicht leisten kann. Und es braucht so viel Zeit, ständig im Internet nach günstigen Alternativen und Occasionen zu suchen. Ab und zu wünschte ich mir, einfach mit dem Bus in die Stadt fahren und einkaufen zu können, was wir grad brauchen.
Dafür bereiten mir ganz kleine Dinge ein wahnsinniges Glücksgefühl. Wenn ich freihabe und im Sommer im See baden gehen kann, zum Beispiel. Auch die Schulferien meines Sohnes, die wir grösstenteils auf dem Spielplatz verbringen, sind immer eine sehr unbeschwerte Zeit und lenken mich von all den Problemen ab. Und vor einer Weile konnte ich mir endlich einen Roller leisten. Der ist eine grosse Erleichterung im Alltag, denn ich kann jetzt auch eine Arbeit suchen, die weiter entfernt von unserem Zuhause ist.
Was mich oft unter Druck setzt: Wenn man in einer tieferen sozialen Schicht ist, achtet man penibel darauf, alles extrem korrekt zu machen. Alles muss perfekt sein, schön sauber und man selbst immer pünktlich. Darunter leidet auch mein Sohn. Ich bin sehr streng mit ihm und verlange, dass er sich stets korrekt verhält, anständig und respektvoll mit anderen Menschen umgeht. Ich glaube, für ihn ist es oft schwierig, das alles zu verstehen – es prägt ihn vermutlich sehr. Reichtum und Besitz sind vielleicht auch deshalb derzeit wichtige Themen für ihn. Mit seinen sechs Jahren sagt er schon ganz klar, dass er später einmal reich sein möchte, und er weiss genau, welches Auto er sich kaufen will, wenn es mal so weit ist. Ich selbst hingegen lebe gern einfach. Nur eines fehlt mir sehr: das Gefühl, für die Gesellschaft wertvoll zu sein.