Aus einem Versprechen wurde ein Beruf: Maria Titizian zog von Kanada in ihre Heimat Armenien, um dort etwas zu verändern.
Mein erster Enkel kam vor sechs Jahren zur Welt. Als ich ihn in meinen Armen hielt, sagte ich zu meiner Tochter: «Ich werde alles tun, damit er niemals einen Krieg erlebt.» Es kam leider anders. Letzte Woche war ich an der Beerdigung eines Freundes auf dem Militärfriedhof. Im Stundentakt wird dort Sarg um Sarg zu Grabe getragen. Junge Frauen, gekleidet in Schwarz, weinen um ihre Ehemänner und ihre Brüder. Die Schreie der Mütter, die ihre Söhne verloren haben, hallen über das Gelände. Seit Ende September herrscht in Armenien Krieg. Grund ist der Konflikt um Arzach, besser bekannt als Bergkarabach. Stalin sprach das Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Seit dem Zerfall der Sowjetunion besteht die hauptsächlich armenische Bevölkerung jedoch auf Unabhängigkeit, bisher erfolglos.
Aserbaidschan beansprucht nun die Kontrolle über das Gebiet zurück – mit militärischer Unterstützung der Türkei, was das Trauma unserer Nation hochkommen lässt: den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, der bis heute von der Türkei nicht anerkannt wird. Damals wurden meine Grosseltern und mit ihnen viele Hunderttausende Kinder Waisen. Ich wuchs in Kanada auf. Vor zwanzig Jahren zog ich mit meinem Mann und meinen beiden Kindern nach Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Ich wollte in meiner Heimat, die ich nur aus Erzählungen kannte, etwas bewegen.
Heute bin ich Chefredaktorin bei «EVN Report». Ich habe das unabhängige Onlinemagazin vor vier Jahren gegründet, um mit gut recherchierten Artikeln auf Englisch die Welt an den Geschehnissen hierzulande teilhaben zu lassen. Bekannt wurde die Plattform durch unsere Berichterstattung während der Samtenen Revolution 2018. Wir schrieben, fotografierten und filmten, wie die Menschen friedlich protestierten und die Regierung so zum Rücktritt bewegten. Wir freuten uns über die neue demokratische Exekutive. Über ihre Reformen.
Ich arbeitete rund um die Uhr, liebte die hoffnungsvolle Stimmung. Wir fühlten uns so sicher. Heute sind die Nachrichten, die wir veröffentlichen, grau und trostlos. Wir schreiben, welche Stadt rund um Bergkarabach bombardiert wird und wie viele Menschen sterben. Wir vermeiden Begriffe wie «Feind» und «Gegner», um keinen Hass zu schüren. Ich arbeite wieder bis tief in die Nacht. Ich schlafe traumlos. Und sobald ich erwache, renne ich los. Neben mir arbeiten zwei junge Frauen in der Redaktion. Manchmal lachen wir über die kleinsten Dinge, weil wir so müde sind. Manchmal fängt jemand an zu weinen und alle weinen mit. Ich erinnere mich, wie meine Kollegin die Liste mit den ersten fünfzig Gefallenen durchging. Ich beobachtete, wie sich rote Flecken an ihrem Hals bildeten. Dann kamen die Tränen. Die Jahrgänge der Toten: 2000, 2001, 2002. Knapp zwanzigjährige Jungs, die an der Front starben und immer noch sterben.
Ich wünschte, die Botschaften und Nachrichtenagenturen, die uns zu Zeiten der Revolution die Tür einrannten, würden sich auch jetzt melden. Ich wünschte, jemand würde uns beistehen. Wir sind eine kleine christliche Nation mit drei Millionen Einwohnern vor den Toren Europas und behaupten uns gegen die umliegenden Diktaturen. Jeder hier ist persönlich vom Krieg betroffen. Jeder kennt jemanden, der um jemanden trauert. Oder trauert selbst.
Wir nehmen Tausende Flüchtlinge aus Bergkarabach auf. An den Häusern hängen Schilder mit Verhaltensregeln für den Fall eines Luftangriffes. Wir haben Taschen gepackt, falls wir in die Bunker müssen. Aber dann kommt mein Schwiegersohn für ein paar Tage von der Front heim. Auch mein Sohn, der im Kriegsgebiet filmt, ist da. Ich nehme mir zwei Stunden frei und geniesse es, meinen Mann, meine Kinder und meine Enkel um mich zu haben. Sie sind das Beste, was mir passieren konnte, das ist mir heute bewusster denn je.
– Maria Titizian (54 Jahre), Chefredaktorin EVN Report in Jerewan, Armenien