Leben
Wenn man ins Ausland fahren muss, um abzutreiben
- Aufgezeichnet von Stephanie Hess; Foto: GettyImages
Es war eine Routinekontrolle. Der Arzt am Unispital Zürich mass das Baby per Ultraschall, stutzte. Fünf Mal wiederholte er die Messung. Und sagte dann, dass der Oberkörper seit der letzten Untersuchung nicht gewachsen sei. Ich war in der 19. Woche. Er wollte sich noch nicht weiter äussern, aber ich begann schon zu ahnen, dass das sehr schlechte Neuigkeiten waren. Ich vereinbarte einen Termin beim Frauenarzt meines Vertrauens, einem ehemaligen Gynäkologie-Chefarzt. Er studierte die Ergebnisse, schaute mich an und sagte, er kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Kind mit diesen Voraussetzungen gesund zur Welt gekommen wäre.
Mein Mann und ich liessen alle pränatalen Tests nochmals durchführen, um herauszufinden, was unserem Baby fehlt. In den zwei Wochen, in denen wir auf die Ergebnisse warteten, redeten wir viel, weinten. Ich weiss, was es heisst, mit einem kranken Kind in der Familie zu leben. Bei meiner jüngeren Schwester kam es zu einer nichtvererbbaren Genmutation, die sie körperlich stark behindert. Sie war als Kind sehr oft im Spital. Für uns beide eine schwierige Kindheit. Auch wenn ich heute ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern und zu meiner Schwester habe: Ich kann mir nicht vorstellen, dieses Leben nochmals zu führen. Irgendwann sprachen mein Mann und ich aus, was wir beide dachten: Wir wollten abtreiben. Ich hasste es, mich danach im Spiegel zu sehen. Weil ich wusste, dass das Kind in mir sterben wird. Weil wir es umbringen werden, das muss man auch mal so direkt sagen. Wir informierten unsere Freunde, Familien, auch meine Schwester. Niemand verurteilte uns. Ich weiss jedoch, dass es für meine Schwester nicht einfach war. Was wäre passiert, hätten meine Eltern damals von der genetischen Mutation gewusst? Hätten sie dasselbe getan wie ich?
Nach der 12. Woche ist eine Abtreibung in der Schweiz nur möglich, wenn man den medizinischen Grund kennt, der zur Fehlentwicklung führt. Den hatten wir aber nicht, nur die höchstwahrscheinliche Entwicklung, die uns Experten bescheinigten. Auch die wiederholten Tests lieferten keine Erklärung. Als die Resultate kamen, war ich in der 21. Woche plus 3 Tage. In Holland ist ein Abbruch bis zu Woche 21 plus 5 Tage möglich, auch ohne medizinischen Grund. Das hatte ich zuvor recherchiert. Ich rief alle Kliniken an. Eine einzige hatte noch einen Termin frei, am nächsten Tag um 9 Uhr. Wir rasten von Zürich aus über die deutschen Autobahnen nach Holland, die schrecklichsten neun Stunden in meinem Leben. Ich bin als Mädchen aus dem Krieg in die Schweiz geflüchtet; diese Fahrt war bedeutend schlimmer.
Im Spital in Utrecht sprach ich mit drei Fachfrauen, die sich nochmals versicherten, dass ich wirklich abtreiben will. Ich wollte. Ich wurde in den OP geschoben. Tausend Euro kostete der Eingriff. Die Erleichterung danach war riesig. So riesig wie der Schmerz.
Als wir zuhause waren, kauften mein Mann und ich Rosen, standen auf eine Brücke, weinten und liessen sie in einen Fluss fallen. Wir brauchten eine Art Abschied. Mein Mann geht inzwischen zu einer Psychologin. Ich selber spreche mit meinen Freundinnen und mit meiner Familie, um zu verarbeiten. Und ich spreche hier darüber. Denn ich will nicht, dass dieser Abbruch ein Tabu ist. Sucht man nach Erfahrungen im Internet, schreiben nur diejenigen über die späte Abtreibung in Holland, die negative Erfahrungen gemacht haben. Es gibt ganz wenige, die sagen, dass es die richtige Entscheidung war. Dass sie froh sind. Ich kann sagen: Ich bin es. Dennoch wird der Verlust nicht zu verwinden sein. Mit der Zeit brennt der Schmerz nur etwas weniger. Jeden Tag ein bisschen weniger. Ein Jahr ist es nun her seit dem Eingriff. Seit Kurzem versuchen mein Mann und ich, wieder ein Kind zu bekommen.
S.B. (36), Zürich