Wenn man in der Corona-Krise an vorderster Front steht?
- Text: Céline Geneviève Sallustio, Foto: Unsplash
Ein Privatleben? Das habe ich zurzeit nicht mehr. Manchmal sehne ich mich unglaublich nach einer Umarmung von meinen Liebsten. Doch wenn ich spät abends nach Hause komme, schläft meine Familie schon. Die Zeit reicht nicht einmal für einen kurzen Anruf bei den Grosseltern. Eigentlich verrückt: Ich helfe fremden Menschen, aber meine eigene Familie vernachlässige ich total.
Seit Ende Februar betreue ich in einem Aargauer Regionalspital Corona-Patienten. Im Rahmen meines Medizinstudiums hatte ich hier zuvor schon eineinhalb Jahre als Unterassistentin gearbeitet. Dann kam die Pandemie – und stellte alles auf den Kopf.
Die Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf das Corona-Virus, die ich in einem speziell abgetrennten Bereich der Notfallstation untersuche, wissen nicht, wie ich aussehe. Man sieht ja kaum etwas von mir, wegen der Schutzkleidung. Wenn ich den Raum betrete, bitte ich die Leute stets, nicht zu erschrecken. Ich trage Schutzanzug, Handschuhe, Mundschutz und eine Schutzbrille, die ziemlich nerven kann, weil sie an den Schläfen drückt und durch das Schwitzen anläuft.
Bei jedem neuen Patienten muss ich die Schutzausrüstung wechseln. Viel schwieriger aber finde ich, dass diese Ausrüstung Distanz schafft. Auch die Patientinnen und Patienten tragen ja Mundschutz. Dadurch entgehen mir wichtige Informationen: Wie reagiert der Patient auf das, was ich sage? Lächelt er? Hat er einen leidenden Ausdruck? Solche nonverbalen Signale bleiben unter dem Mundschutz verborgen.
Ich höre die Lunge und das Herz ab. Dann mache ich einen Abstrich. Dafür müssen die Patienten den Kopf in den Nacken legen, und ich führe ein 15 Zentimeter langes Stäbchen tief in jedes Nasenloch ein. Das ist nicht angenehm. Manchen Patienten treibt es richtig die Tränen in die Augen, andere verspüren einen unangenehmen Würgereiz. Vielleicht kann man es mit dem Abstrich beim Frauenarzt vergleichen, doch es ist definitiv schlimmer. Die vielen Ärzte und Pflegenden, die wir ebenfalls testen, nehmen es meistens gelassener, aber auch für sie ist das kein Spass.
Die ganze Untersuchung dauert etwa 15 bis 30 Minuten. Eine meiner Hauptaufgaben besteht darin, die Patientinnen und Patienten zu beruhigen. Angst haben sie fast alle – und zudem viele Fragen, die wir teilweise nicht beantworten können. Die Informationslage ist schwierig, und die Richtlinien ändern sich von Tag zu Tag. Das sorgt für viel Unsicherheit, auch beim medizinischen Personal. Neulich kam ein älteres Ehepaar mit Atemproblemen, das sich testen liess. Die beiden waren voller Angst und wollten von mir wissen, wann die Krankheit voll ausbrechen und wie lang sie dauern würde. Ob sie sich wohl beim hustenden Mann angesteckt hätten, der neben ihnen im Zug sass. Ob sie die Krankheit schon weitergegeben hätten. Ich kann solche Fragen nicht beantworten. Das ist unbefriedigend und belastet mich. Doch im Zweifelsfall gebe ich lieber zu, dass ich die Antwort nicht weiss. Das schafft bei den Patienten mehr Vertrauen.
Zu sehen, wie viele Menschen an diesem Virus sterben, versetzt auch mich in Angst. Nachts liege ich manchmal wach, tagsüber bin ich nervös und ange-spannt. Meine Sorge, selbst zu erkranken, ist jedoch viel kleiner als jene, das Virus an andere weiterzugeben. Und auch wenn das vielleicht seltsam tönt: Als angehende Ärztin sind diese Erfahrungen für mich unendlich kostbar. Wo sonst könnte eine Medizinstudentin im achten Semester in diesen Tagen so viel bewirken wie hier? Ich möchte nirgendwo anders sein.