Carmela Zumbach (34) arbeitet als Projektleiterin beim Schweizerischen Gehörlosenbund (SGB-FSS). Sie wollte immer mit Gehörlosen arbeiten – denn mit ihnen versteht sie sich ohne Worte. Nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie ist gehörlos.
In der Familie erzählt man sich, dass ich bis dreimonatig hörend war. Dann musste ich einen Hörtest machen. Die Methoden waren damals veraltet, dabei haben sie mir dann leider den Hörnerv kaputt gemacht. Ich selbst sage immer, dass ich von Geburt an gehörlos bin. Meine ganze Familie ist gehörlos – meine Eltern sowie meine Schwester. Natürlich haben wir auch Verwandte, die hörend sind – aber nicht im engsten Kreis. Zuhause bin ich mit Gebärdensprache aufgewachsen. Ich kenne die Gehörlosenwelt sehr gut.
Als man entdeckt hat, dass ich gehörlos bin und zudem gehörlose Eltern habe, schlug der Arzt Alarm, man müsse sofort Massnahmen zur Schulbildung ergreifen. Es besuchte uns eine Logopädin, die mit mir spielen und reden musste. Meinen Eltern wurde nichts zugetraut – dabei können gehörlose Eltern ihre Kinder erziehen wie alle anderen auch. Aber 1985 herrschten noch viele Vorurteile, man dachte, es schadet der Entwicklung der Kinder, wenn sie mit Gebärdensprache aufwachsen. In der Schule musste ich mit den Händen auf dem Rücken sprechen. Die Gebärdensprache war verboten. Es war eine harte Zeit. Meine Mutter hat mir das ABC beigebracht, aber grammatikalisch war sie nicht so stark. Das haben meine Eltern der Schule überlassen, dort habe ich lesen und schreiben gelernt.
Die Gebärdensprache funktioniert ganz anders als die deutsche Grammatik. Für uns ist Deutsch eine Fremdsprache. In der Gebärdensprache nutzen wir beispielsweise keine Artikel und konjugieren auch die Verben nicht, wir nutzen die Grundform. Häufig steht das Wort in einem deutschen Satz in der Mitte, also Subjekt, Verb, Objekt: Die Katze springt auf den Tisch. In Gebärdensprache sagen wir: Katze, Tisch, springen. Das Verb steht am Ende. Dazu benutzen wir weitere Werkzeuge wie Mimik und Gestik.
Ich kann mit meiner eigenen Stimme in der Lautsprache sprechen, das habe ich aber schon immer gehasst. Sowie ich es früher gehasst habe zu lesen. Ich hatte wenig Zugang zum Lesen, es hatte einfach nicht zum Alltag meiner Familie gepasst. Wir haben uns die Welt in Gebärdensprache nähergebracht, beispielsweise mit Chaschperlitheater oder indem wir die Bilder aus einem Buch nachgespielt haben. Meine Eltern konnten nicht in klassischem Sinn Bücher vorlesen, aber dafür waren sie theatralisch sehr stark.
Mein Gotti, sie ist hörend, hat mir einmal zu Weihnachten ein Buch geschenkt. Da war ich wirklich frustriert. Ich hätte lieber etwas anderes gehabt. Meine Mutter meinte aber: «Lesen ist wichtig. Auch für deine Zukunft.» Ich erwiderte: «Aber du liest ja auch nicht!» Das Buch lag gut 20 Jahre unberührt im Schrank. Erst durch einen Lehrer, der gesagt hat, wir Gehörlosen sollten endlich aufhören, so ein Theater zu machen, dass wir nicht lesen können. Erst da dachte ich: Stimmt eigentlich – ich bin ja nur gehörlos. Weshalb sollte ich nicht lesen können?
Als hörende Person hat man einen grossen Vorteil, wenn es darum geht, lesen zu lernen. Die Sprache wird übers Gehör vermittelt und mit dem Wortbild, das geschrieben steht, verknüpft. Wir Gehörlosen leben in einer visuell geprägten Welt, wir beschreiben über Gesten, mit unseren Händen und dem Körper. Ein Schriftbild ist uns sehr fremd. Ich hatte in der Schule Mühe mit Lesen. Wir haben Verben und Nomen gelernt und geübt. Aber dass ich daraus auch Informationen gewinnen und mir eine Vorstellung davon machen kann, was da steht, das habe ich damals nicht begriffen.
Als ich älter wurde merkte ich, dass Lesen mir neue Perspektiven eröffnen kann. Ich war Herr-der-Ringe-Fan und habe den Film mit Untertiteln mehrfach angeschaut – bis mir jemand sagte, das Buch sei noch viel besser. Da habe ich das Buch gelesen und gemerkt, dass da noch viel mehr Details beschrieben werden und ich besser in die Geschichte eintauchen kann.
Es ist wichtig, das Lesen genauso wie die Gebärdensprache zu fördern. Für Gehörlose sind Gebärden die natürliche Ausdrucksweise. Ich habe viele Freunde, deren Gebärdensprache in der Familie nicht gefördert wurde und die darunter sehr gelitten haben.
Was ich hörenden Eltern gern mitgeben würde: Bringt euern gehörlosen Kindern die Welt doch auch visuell näher. Benutzt die Gebärdensprache, benutzt Gesten, benutzt Bilder, versucht, so kreativ wie möglich zu sein. Ich verstehe, dass es für Hörende schwierig ist. Aber die Kinder können lernen, sie können Lautsprache lernen, sie können lesen lernen. Ihr müsst keine Angst haben: Gehörlose Kinder können sich wie jedes andere sehr gut entwickeln, wenn sie dabei unterstützt werden.
Im Dezember ist die neue App Storysign auf den Markt gekommen, die gehörlosen Kindern auf spielerische Weise helfen soll, lesen zu lernen. Ein Avatar namens Star übersetzt dabei den Text des Kinderbuches in Gebärdensprache, gleichzeitig leuchtet das jeweilige Wort, das gebärdet wird, farbig auf – so sieht man auch die unterschiedlichen Strukturen der Sprachen. Bis jetzt gibt es erst ein Buch, das auf Deutsch so gelesen werden kann: «Peter Hase». Die Bibliothek soll aber noch grösser werden, verspricht Entwickler Huawei, der das Projekt zusammen mit der Europäischen Union der Gehörlosen und dem Britischen Gehörlosenbund realisiert hat.