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Wenn man als Gehörlose Karriere macht

Wenn man als Gehörlose Karriere macht

  • Text: Stephanie Hess; Foto: iStock/humonia

Tatjana Binggeli (45) kam gehörlos zur Welt. Das hinderte sie nicht daran, Zahn- und Humanmedizin, später Biomedizin und wissenschaftliche Medizin zu studieren. Heute arbeitet sie am Universitätsspital Basel und ist Präsidentin des Gehörlosenbunds SGB-FSS. Doch ihren Erfolg musste sie sich hart erkämpfen. 

Wenn ich mich bewerbe, verschweige ich, dass ich gehörlos bin. Es geht schliesslich um meine Facherfahrung, meine Qualifikationen. Und als Doktorin und mit je einem Studium in wissenschaftlicher Medizin, in Zahn- und Biomedizin habe ich die. Zu Vorstellungsgesprächen werde ich jeweils schnell eingeladen. Wenn ich dann aber sage, dass ich von den Lippen ablesen muss, kann es gut vorkommen, dass man mir zu verstehen gibt: Danke, dort ist die Tür.

Als Kind besuchte ich in der Unterstufe eine Sonderschule für Gehörlose. Viele Stunden flossen in die Logopädie, also ins Erlernen der Lautsprache. Der eigentliche Schulstoff, das Wissen, blieb auf der Strecke. Eine Lehrerin entdeckte schliesslich mein Potenzial. Sie schickte mich in die Schwerhörigenschule, wofür ich aber erst einmal einen Intelligenztest ablegen musste. Das hat mich masslos geärgert. Warum sollte ich geistig nicht gesund sein?

Genau hier liegt bis heute ein grosses Problem. Hörende sind versucht zu glauben, dass Gehörlose das Gesagte kognitiv nicht verstehen. Ich habe eine eigene Stimme, eine andere Art der Kommunikation. Wenn wir beide nicht miteinander reden können – sind Sie kommunikationsbehindert oder ich?

Vielleicht war es diese stets wiederauftauchende Herabsetzung, die mich dazu brachte, dass ich unbedingt die Matura an einem öffentlichen Gymnasium machen wollte. Meine Klassenkameraden am Gymi waren toll, alles andere jedoch war ein Kampf. In manchen Fächern standen mir Gebärdensprachdolmetscher zur Seite, für deren Finanzierung meine Eltern und ich viele Anträge stellen mussten. Aber Lippenlesen funktioniert eben nicht immer. Dafür müssen Lehrer deutlich sprechen, einen anschauen. Und Wörter gebrauchen, die man kennt – was bei neuen Fächern natürlich schlecht möglich ist.

Später studierte ich erst Zahn- und Humanmedizin, später Biomedizin und wissenschaftliche Medizin. Auch dafür benötigte ich Gebärdensprachdolmetscher. Das alles zu organisieren, war ein riesiger Aufwand. Ich nahm einen Kredit auf, weil die Kostenübernahme erst nicht bewilligt worden war. Ich zog bis vors Verwaltungsgericht, um letztlich recht zu bekommen. Jeden Monat musste ich dann einen Bericht zum Studiumsverlauf abgeben und regelmässig bei der IV vorstellig werden – um zu beweisen, dass ich tatsächlich studiere und dass das Studium für mich noch immer möglich ist. Auch vonseiten der Universität gab es Hürden: Zu einer Abschlussprüfung wollte man mich zunächst nicht zulassen, weil ich mit einem Geburtsgebrechen, so der medizinische Fachbegriff, nicht in der Medizin arbeiten dürfe. Auch hier kämpfte ich, auch hier bekam ich schliesslich recht.

Ich arbeite heute am Universitätsspital Basel in der Augenklinik und im biomedizinischen Zentrum für Lehre und Forschung. Die anderen Mediziner haben ein Telefon, über das man sie erreicht. Ich habe einen vibrierenden Pager. Wenn es schnell gehen muss, benutze ich das Internettelefon mit Textvermittlung. Ich schreibe dem Vermittlungsdienst, wen ich anrufen und was ich sagen will. Dieser stellt dann eine Verbindung her und dolmetscht das Gespräch.

Ich habe eigene Strategien entwickelt, um Erfolg zu haben. Aber ich habe oft gelitten, weil ich so viele Diskriminierungen erleben musste. Meine Eltern haben mich immer unterstützt, moralisch und finanziell. Manchmal fragten sie mich aber auch, ob ich nicht einmal den einfacheren Weg nehmen könnte. Neben Familie und Beruf kämpfe ich heute als Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbunds SGB-FSS für unsere Rechte: für die Anerkennung der Gebärdensprache, der kulturellen Minderheit und den vollen Zugang zu Bildung, Gesellschaft, Kultur – und Arbeitsmarkt. Denn mit meinen Erlebnissen in Vorstellungsgesprächen bin ich bei weitem nicht allein: Gehörlose Menschen sind dreimal öfter von Arbeitslosigkeit betroffen als hörende.