Leben
Wenn man mit 45 Jahren noch als Primaballerina auftritt
- Text: Aufgezeichnet von Sulamith Ehrensperger; Foto: Unsplash / Jess Watters
Yen Han ist Primaballerina beim Ballett Zürich. Sie erzählt, wie es ist, mit 45 Jahren immer noch professionell Ballett zu tanzen.
Viele Ballerinas tun sich schwer mit dem Älterwerden. Bei mir ist das nicht so. Manchmal frage ich mich, wie sich eine 45-jährige Frau eigentlich anfühlen sollte. Bei mir driften Alter und Körpergefühl irgendwie auseinander. Seit ich ein Kind bin, trainiere ich jeden Tag. Ob in Ballettklassen, Proben, im Pilates oder Yoga. Meine Muskeln erinnern sich an die unzähligen Workouts. Ich fühle mich in meinem Körper stark und habe keinerlei Beschwerden. Vielleicht sind das die Gene. Meine Mutter war sehr sportlich und trainierte mit siebzig Jahren noch Kampfkunst. Mein Name ist chinesisch, mein Aussehen und meine Wurzeln auch, doch ich bin US-Amerikanerin. Als kleines Mädchen bin ich mit meinen chinesischen Eltern aus Vietnam nach Los Angeles geflüchtet. Dort verliebte ich mich in den Tanz. An meine allererste Ballettstunde kann ich mich genau erinnern. Ich war sechseinhalb Jahre alt und versuchte, meine Füsse in der fünften Position zu halten. Statt sie auszudrehen, stellte ich sie nach innen. Nach meiner Ausbildung hatte ich das Glück, in Zürich als Solistin engagiert zu werden. Damals war ich erst 21. Ich tanze nun seit über zwanzig Jahren für dieses Ensemble. Es inspiriert und fördert mich, wofür ich dankbar bin. Die meisten Ballerinenkarrieren sind sehr kurz. Viele hängen ihre Spitzenschuhe lange vor vierzig an den Nagel. Weil der Körper nicht mehr mitmacht. Und auch, weil als Ballerina vieles nicht in deiner Hand liegt. Die Direktion bestimmt, wer in eine Compagnie passt, die Choreografen entscheiden über die Besetzung. Unsere Karriere ist von der künstlerischen Vision anderer abhängig. Ich bin aber keine wehrlose Puppe. Bin ich mit der Situation unglücklich, ist es meine Freiheit zu entscheiden, ob ich bleibe oder gehe.
Ich bestreite nicht, dass in der Ballettwelt Eifersucht und Konkurrenzdruck existieren. Als Tänzerin erlebe ich solche Gefühle. Wenn eine Kollegin den erhofften Part nicht bekommt, spüre ich, dass sie traurig ist. Emotionen, die auch ich als junge Ballerina durchlebte. Heute nehme ich das nicht mehr so tragisch. Vor allem zu Beginn der Karriere gehören solche Gefühle dazu, schliesslich möchtest du vorankommen und wachsen. Aber dass sich Tänzerinnen gegenseitig Nägel in die Schuhe legen oder andere verletzende Dinge tun, wie man das in Filmen sieht, habe ich bisher nicht erlebt. Ich glaube, dieses überdramatisierte Bild kommt aus den Medien. Neben meiner Bühnenkarriere führe ich mit meinem Mann eine Ballettschule und ich habe zwei Söhne im Alter von 7 und 14 Jahren. Nur wenige Ballerinas bekommen während ihrer Karriere Kinder. Meiner Erfahrung nach wächst der Kinderwunsch bei den meisten Frauen um die dreissig – genau zur Blütezeit jeder Ballettkarriere. Ich wollte immer Kinder haben. Wer sich für ein Kind entscheidet, tritt einen Schritt zurück. Welche Rolle du tanzt, ist dann nicht mehr das Wichtigste. Für mich war es kein Drama, ein Jahr zu verlieren. Auch wenn eine Tanzkarriere kurz ist: Sie ist nichts im Vergleich zu dem, was ich als Mutter ein Leben lang gewinne. Das Wichtigste ist, zu lieben, was du tust. Tanz ist und wird immer Teil meines Lebens sein. In Zukunft möchte ich mich meiner Schule und noch nicht spruchreifen Projekten widmen. Wann der Moment gekommen ist, von der Bühne abzutreten, kann und will ich als Künstlerin nicht planen. Dem Abschied werde ich mich Schritt für Schritt nähern und spüren, wann es Zeit wird. Doch erst gibt es noch so viel mehr in dieser Tanzwelt zu entdecken.