Die Idee entstand aus der Not heraus. Am Tag, als Felix und ich mit unserer Tochter Emma aus dem Spital kamen, wurden wir aus unserer Wohnung in der New Yorker Upper East Side geschmissen. Lärmbelästigung, hiess es in der gerichtlichen Vorladung. Ein völlig unbegründeter Vorwurf. Zumal wir alle Zimmer mit Teppichen ausgelegt hatten. In Brooklyn fanden wir kurz darauf eine neue Bleibe. Als dann aber unser neuer Vermieter die Miete um 400 Dollar auf 3200 Dollar erhöhte, standen wir ein zweites Mal auf der Strasse. In New York übersteigt die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnflächen das Angebot bei Weitem. Eine Zweizimmerwohnung kostet schnell mal 3500 Dollar.
So viele Menschen wollen die Magie der Stadt täglich um sich haben – auch mich hauen ihre Energie und Vielfalt jeden Tag aufs Neue um. Aus New York wegzuziehen, kam für mich und meinem Mann – er ist ebenfalls Journalist – deshalb nicht infrage. «Machen wir aus den Zitronen Limonade», sagten wir uns – «und ziehen ab jetzt jeden Monat in einen anderen Stadtteil.» Unsere deutschen Freunde und Verwandten reagierten entsetzt auf unseren Plan, die New Yorker waren begeistert; sie kennen die Wohnungsnot und sind umgeben von verrückten Ideen. Ein Freund bot uns spontan eines seiner freistehenden Apartments in Long Island City an. Für das Experiment beschränkten wir uns auf je einen Koffer und auf Emmas Lieblingsspielsachen. Die meisten Wohnungen fanden wir online oder über Bekannte. Fast jedes Apartment umrankte eine verrückte Geschichte. In Washington Heights lebten wir bei Kurt, der rund 15 000 antiquarische Bücher besitzt. Im Viertel East Village war unsere Wohnung die ehemalige Zentrale des Drogenrings Green Angels. Dessen Dealerinnen sind attraktive, langbeinige Frauen – grösstenteils Models –, die bereits Rihanna oder Justin Bieber mit Marihuana beliefert haben sollen.
Gerade jene Viertel, denen ein schlechter Ruf vorauseilt, begeisterten uns am meisten. Vor allem in den ärmeren Quartieren kamen wir leicht mit den Einheimischen ins Gespräch. Hier sind die Leute – grösstenteils Migranten – aufeinander angewiesen, helfen sich gegenseitig. Da wir in jedem Viertel unsere Nachbarn zum Abendessen einluden, machten wir überall spannende Bekanntschaften. Wir lernten zum Beispiel Debbie und Ed kennen, die sich seit 24 Jahren ein zwanzig Quadratmeter kleines Zimmer im «Chelsea Hotel» teilen. Hier träumen sie von einer Renaissance ihrer Unterkunft, die einmal ein Magnet für weltbekannte Künstler und Intellektuelle war. Unvergesslich war auch das Neighborhood-Dinner in der Südbronx, wo Noëlle – eine nette junge Frau, die einen hippen Buchladen eröffnet hatte –, mit Anti-Gentrifizierungs-Aktivisten stritt. Diese warfen ihr vor, ihr Shop locke Investoren an und verteure so indirekt die Mieten. Noëlle wehrte sich dagegen. Sie wolle das Viertel doch nur attraktiver für junge Menschen machen.
Nach stundenlangen Diskussionen hatten die drei sich versöhnt und fielen sich in die Arme. Momente wie diese beflügelten uns. Wir erlebten aber auch Tiefs. Einmal gingen wir einem Internetbetrüger auf den Leim. Die Adresse seines Apartments gab es gar nicht. Ohne Dach über dem Kopf und mit Emma auf dem Arm hätte ich damals am liebsten alles hingeschmissen. Doch Felix motivierte mich zum Weitermachen. Das Projekt zogen wir bis zum Schluss durch. Heute leben wir in einer Wohnung in der Upper West Side. Wir besitzen nur noch das Nötigste. Ich habe mich etwa auf zwei Paar Schuhe beschränkt. An manchen Tagen vermissen wir die monatlichen Wohnungswechsel. Gut möglich, dass wir das Experiment in einer anderen Stadt erneut wagen. Umziehen ist das neue Wohnen!
Die 36 jährige Christina Horsten arbeitet als Journalistin in New York.
Buchtipp – Christina Horsten, Felix Zeltner: Stadtnomaden. Benevento-Verlag, 2019, 304 S., ca. 25 Franken