«Frauen sind benachteiligt. Wirklich?» Diese Frage stand jüngst bei einer Debatte in Bern zur Diskussion, bei der ich angefragt worden war, das Schlusswort zu halten. Das Abstimmungsresultat: Zwei Drittel der Frauen und ein Drittel der Männer waren der Ansicht, dass Frauen in der Schweiz nicht benachteiligt sind.
Dieses Ergebnis, das gebe ich zu, hatte ich nicht erwartet. Nicht in diesem Kreis von gebildeten, liberal und fortschrittlich denkenden Gästen. Ich hatte ein paar Minuten Zeit, mein Schlusswort umzuformulieren, und leitete es mit einer Aufzählung von Fakten ein: Im Global Gender Gap Index 2020 des World Economic Forum liegt die Schweiz auf Platz 18, hinter Südafrika und den Philippinen. Bei den fünfzig grössten Schweizer Unternehmen ist nur eine Frau auf dem Chefposten anzutreffen. Bei individuellen Lohnerhöhungen und im Schweizer Vorsorgesystem sind Frauen effektiv benachteiligt. Und in den Schweizer Medien kommen sie seltener zu Wort: Zum Beispiel wurden die Kandidatinnen für die letzte Nationalratswahl im Vergleich zu den Kandidaten weniger genannt, zitiert und porträtiert. Bei zwei grossen bürgerlichen Parteien waren rund vierzig Prozent der Kandidierenden Frauen, jedoch wurden sie nur in rund dreissig Prozent der Fälle in den Medien genannt.
Für diese Ungleichheit der Geschlechter gibt es in der Schweiz viele Gründe: Von unbewussten Vorurteilen über fehlende Erwerbsanreize und schwache Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis hin zur Frau selbst, die sich selber im Weg steht. Je nach Blickwinkel oder Parteizugehörigkeit werden die Ursachen unterschiedlich eingeschätzt. Worüber sich aber alle annabelle–Leserinnen und –Leser wohl einig sein dürften, ist: Talent kennt kein Geschlecht. Und weil Talent keine Frage des Geschlechts ist, müssen wir davon ausgehen, dass die Gründe, weshalb Frauen und Männer in Entscheidungspositionen nicht ausgeglichen vertreten sind, struktureller Natur sind.
Frauen sind den Männern in der Schweiz nicht gleichgestellt. Bis wir es sein werden, gibt es also noch einiges zu tun. Ein erster, sehr wichtiger Schritt ist, dies anzuerkennen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, informierter und faktenkundiger werden. Es geht nämlich nicht um die Schuldfrage. Vielmehr geht es darum, dass wir Frauen nur über die gleiche Stellung wirklich unabhängig und frei sein können.
Mein Lichtblick: Mehr und mehr sehe ich berufstätige Frauen Seite an Seite stehen. Unser Parlament hat kräftig an Politikerinnen zugelegt. Die Suche nach einer fairen Besteuerung à la Individualbesteuerung und damit richtigen Erwerbsanreizen hat es zumindest auf die politische Tagesordnung in Bern geschafft. Das Medienunternehmen Ringier setzt sich mit seiner Initiative Equal Voice vorbildlich dafür ein, gleichermassen über Frauen und Männer zu berichten: 50:50 ist das Ziel.
Obwohl das Abstimmungsergebnis meiner Debatte in Bern eine Katerstimmung bei mir hinterlassen hat, wage ich ein Prosit auf unsere Kultur der Debatte. Und nicht zuletzt: Ein Hoch auf die Gleichstellung!