Was wir aus dem sexualisierten Übergriff des Dalai Lama lernen können

Inhaltshinweis: Sexualisierte Gewalt

Das Video ging viral: Ein Kind fragt den Dalai Lama, der Ende Februar bei einem Empfang im indischen Dharamsala aufgenommen wurde, ob es ihn umarmen darf. Der 87-jährige Dalai Lama verlangt daraufhin vom Kind einen Kuss auf die Wange, ergreift dann das Gesicht des Kindes – und gibt ihm einen Kuss auf die Lippen. Das Publikum lacht.

Als wäre das nicht schon übergriffig genug, streckt er dem Kind noch seine Zunge entgegen und fordert es auf, daran zu lutschen. Dann drückt er seine Stirn an die Stirn des Kindes. Das sichtlich überforderte Kind streckt seine Zunge ebenfalls heraus und zieht sie wieder ein. Statt das Kind endlich loszulassen, hält der Dalai Lama die Hand des Kindes an sein Gesicht und umarmt das Kind danach nochmals.

Dieses Verhalten des Dalai Lama, dessen Name nicht zuletzt für Gewaltfreiheit und Mitgefühl steht, sorgte weltweit zurecht für grosse Bestürzung. Dass ein 87-jähriger Mann mehrfach die Grenzen eines Kindes ignoriert, ist rücksichtslos. Dass er das Kind auffordert, mit ihm eine offensichtlich sexualisierte Handlung vorzunehmen, ist abscheulich. Und dass dies öffentlich vor lachendem Publikum geschieht, ist sehr beunruhigend.

Unterdessen hat sich der Dalai Lama «entschuldigt». Die Zeilen sind ein Paradebeispiel für eine sogenannte «nonpology»: eine Entschuldigung, die keine ist. Er entschuldigt sich zwar, aber bloss für seine Worte. Seine Handlungen werden als unschuldiges und spielerisches Necken verharmlost.

Die grösste Frage, die im Raum steht: War der Dalai Lama wirklich sexuell übergriffig oder wollte er bloss zärtlich sein und stellte sich dabei furchtbar ungeschickt und unsensibel an?

Lasst uns den Vorfall nochmal genauer betrachten: Der Wunsch des Kindes war, den Dalai Lama zu umarmen. Dieser Wunsch veranlasste den Dalai Lama dazu, das Kind auf den Mund zu küssen. Ich kenne kaum ein Kind, das nicht von unangenehmen, aufgezwungenen Küssen erzählen kann (fragt Kinder mal!).

Indem der Dalai Lama das Kind zwingt, ihn zu küssen, lehrt er dem Kind, dass Erwachsene darüber entscheiden dürfen, wie nah sie dem Kind kommen dürfen. Dabei müssen wir Kindern genau das Gegenteil beibringen: dass sie nie Nähe oder Zärtlichkeiten von anderen Menschen erdulden müssen – schon gar nicht als Gegenleistung. Und die Erwachsenen sind dafür zuständig, die Grenzen des Kindes zu wahren. Das sind zentrale Botschaften in der Prävention sexualisierter Gewalt.

Ihr denkt jetzt vielleicht, dass man das Kind fragen müsste, ob es denn den Kuss und die Aufforderung zum Züngeln so schlimm fand. Aber wisst ihr was? Das ist für die Einordnung dieser Handlungen nicht ausschlaggebend. Nicht zuletzt, weil viele Kinder aufgrund ihres Entwicklungsstands und mangels Aufklärung nicht in der Lage sind, eine Grenzverletzung zu erkennen. (Falls euch die Frage trotzdem wichtig ist, dann achtet auf das Kind im Video: Alles an seiner Gestik schreit danach, wie unwohl es ihm ist und wie gerne es körperliche Distanz zum Dalai Lama herstellen würde.)

Wir dürfen die Frage, wann eine Handlung grenzverletzend ist, nicht an Kinder delegieren. Wenn ein Kind etwas schön findet oder es sich an einem Kuss nicht stört, heisst es noch lange nicht, dass der Kuss auch okay war. Grenzen ziehen immer die Erwachsenen. Und von einem erwachsenen Menschen dürfen wir erwarten, dass er die Grenzen kennt. Erst recht von einem Mann, der sich weise nennt.

Nun kommen wir nochmal zurück auf die eingangs gestellte Frage: War das nun ein sexualisierter Übergriff oder bloss ungeschickte Zärtlichkeit? Die Definition von sexualisierter Gewalt liefert uns eine ziemlich klare Antwort: Ein sexualisierter Übergriff ist eine sexuelle Handlung, die an, mit oder vor einem Kind gegen seinen Willen vorgenommen wird, oder der es aufgrund seiner Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann.

Die Aufforderung eines Erwachsenen zum Zungelutschen ist als sexuell konnotierte Handlung zu werten, beim erzwungenen Kuss kann man darüber streiten. Hinzu kommt, dass der Dalai Lama seine Macht- und Autoritätsposition ausnutzte, um seine eigenen Bedürfnisse nach Nähe auf Kosten des Kindes zu befriedigen. Und das ist ein weiteres Merkmal sexualisierter Übergriffe.

Vielleicht fragt ihr euch nun noch, ob es denn wirklich sein kann, dass der Dalai Lama sexuelle Absichten hatte? Ganz ehrlich: Vergesst diese Frage. Erstens werdet ihr sie eh nicht beantworten können, da ihr die Gedanken des Dalai Lamas nicht lesen könnt. Zweitens lenkt diese Frage bloss von der viel relevanteren Frage ab: War die Handlung grenzverletzend oder nicht?

Ja, sie war grenzverletzend. Im besten Fall hat der Dalai Lama null Gespür für die Grenzen eines Kindes und hat überhaupt nicht wahrgenommen, wie unwohl sich das Kind gefühlt hat. Eine Grenzverletzung aus Unachtsamkeit bleibt aber eine Grenzverletzung – und ist nie okay.

Auf diese Grenzverletzung angesprochen, erwarte ich von einem Dalai Lama, wie auch von jedem anderen erwachsenen Menschen, dass er sein Verhalten reflektiert und umdenkt – was der Dalai Lama leider nicht getan hat. Das muss nicht heissen, dass er ein Sexualstraftäter ist, aber er ist offenbar ein Mensch, der die körperliche und sexuelle Integrität eines Kindes wiederholt ignoriert und sein Verhalten im Nachhinein rechtfertigt.

Fakt ist: Die sexuellen und körperlichen Grenzen von Kindern werden oft ignoriert, das Ausmass sexualisierter Gewalt an Kindern weltweit ist immens. Fakt ist auch: Eine Kultur des Wegschauens ist der beste Nährboden für sexuelle Übergriffe. Lasst uns also hinschauen. Ob der Dalai Lama sexuelle Absichten mit Kindern hat, werden wir vielleicht nie erfahren. Aber wir können diesen Vorfall dazu nutzen, sexualisierte Grenzverletzungen an Kindern zu enttabuisieren – und zwar so:

Sprecht mit euren Bekannten über das Video. Positioniert euch klar und benennt den Vorfall als übergriffig. Nehmt das Video zum Anlass, auch mit eurem Kind über das Vorgefallene zu reden: Fragt euer Kind, was es davon hält, und klärt es darüber auf, dass niemand (auch ein lieber Erwachsener nicht!) einem Kind (Zungen-)küsse aufzwingen darf. Nehmt euch vor, in Zukunft (auch wenn es schwer fällt) auch leichte Grenzverletzungen anzusprechen. Damit leistet ihr einen unheimlich wichtigen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern.

Denn nichts ist für potenzielle Tatpersonen abschreckender als ein Umfeld, in dem offen über Grenzen, Grenzverletzungen und sexualisierte Übergriffe gesprochen wird.