Marc Wallert spricht über das dunkelste Kapitel in seinem Leben – und erklärt, warum er seine Entführung heute als wertvolle Erfahrung empfindet.
Marc Wallert bittet darum, ihn nicht als Entführungsopfer zu bezeichnen. «Ich bin ein Entführungsüberlebender», sagt er, «ich habe überlebt, ich konnte daran wachsen, das gibt mir heute Kraft». Im April 2000 wurde der damals 27-jährige Deutsche zusammen mit seinen Eltern und 18 weiteren Touristen aus einem malaysischen Tauchresort entführt. Rebellen der islamistischen Terrororganisation Abu Sayyaf hielten ihn 140 Tage im philippinischen Dschungel gefangen. Dabei geriet das Camp mehrmals unter Beschuss der Armee. Journalisten aus aller Welt reisten an. Hinter den Kulissen verhandelten Diplomaten aus den Heimatländern der Geiseln um deren Freilassung, auch Libyen schaltete sich ein. Muammar al-Gaddafi soll schliesslich 25 Millionen US-Dollar Lösegeld gezahlt haben, doch offiziell bestätigt wurde das nie.
annabelle: Marc Wallert, wenn Sie heute an Ihre Entführung zurückdenken: Welches Gefühl kommt als erstes in Ihnen hoch?
Marc Wallert: Dankbarkeit. Dafür, dass ich überlebt habe, dass mir ein zweites Leben geschenkt wurde. Auch dafür, dass sich während dieser Zeit so viele Menschen um unsere Freilassung bemüht haben. Das hat uns geholfen, stark zu bleiben.
Was Sie durchgemacht haben, ist ein Alptraum: Gewaltmärsche von einem Versteck zum anderen, Granatenbeschuss durch die Armee, Hunger, schlechte Hygiene, giftige Dschungeltiere, die Drohungen der Entführer, Sie zu enthaupten, wenn kein Lösegeld fliesst. Sie müssten doch eigentlich traumatisiert sein.
Das würde man denken, ja, doch ich habe keinerlei Spätfolgen. Ich bin mental fit, habe keine Angst, Reisen zu unternehmen, und keine posttraumatische Belastungsstörung. Ich schrecke auch bei lauten Geräuschen nicht zusammen wie einige meiner Schicksalsgefährten. Mein damaliger Arbeitgeber hat mir nach meiner Freilassung einen Trauma-Experten organisiert. Der hat aber schnell gemerkt, dass alles in Ordnung ist – abgesehen von den Alpträumen, die ich für kurze Zeit hatte.
Wie kommt es, dass Sie das alles so gut überstanden haben?
Ich spürte während dieser Zeit eine grosse innere Stärke. Im Unterschied zu vielen anderen haderte ich nicht mit meinem Schicksal. Ich habe mir bewusst gesagt: Ich kann die Situation nicht ändern. Ich kann sie nur annehmen und das Beste daraus machen. Wichtig war auch mein Optimismus. Ich war überzeugt, dass wir da heil raus kommen, aber ich ging auch davon aus, dass es lang dauern könnte. Das half mir, meine Kraft einzuteilen. Natürlich hatte ich Angst wie alle anderen, doch wenn ich sehr verzweifelt war, habe ich mir vorgestellt, wie ich nach unserer Freilassung mit Freunden ins Café gehe und einen Cappuccino bestelle. Das habe ich so plastisch vor mir gesehen, dass ich es ein Stück weit schon fühlen konnte. Das klappt tatsächlich. Auch Sportler setzen solche Techniken ein.
Wie haben Sie Ihre Angst in Schach gehalten?
Wenn wir unter Beschuss waren, haben wir manchmal wie von Sinnen gelacht, während uns die Kugeln um die Ohren pfiffen. Eigentlich verrückt, dieser Galgenhumor. Erst im Rückblick habe ich begriffen, dass Lachen in dieser Todesangst etwas ganz Ähnliches bedeutet wie Weinen – es ist ein Druckventil, um die unerträgliche Spannung zu lösen.
Welche Strategien haben Ihnen sonst noch geholfen?
Mir tat es gut, für andere da zu sein. Damit verlieh ich mir quasi selbst eine Position der Stärke. Es gab in unserer Gruppe eine junge alleinstehende Französin, die grosse Angst davor hatte, die Rebellen könnten sie missbrauchen. Also gab ich mich als ihr Verlobter aus, um sie zu schützen. Ich übernahm auch die Rolle des Diplomaten, der vermittelte, wenn es in der Gruppe Konflikte gab, und trug mit meinem Vater meine Mutter durch den Dschungel, wenn sie zu schwach zum Gehen war. Je mehr ich helfen konnte, desto weniger spürte ich meine Angst.
Heute arbeiten Sie als Coach und beraten Menschen in Krisensituationen. Was können wir aus Ihren Erfahrungen für die Corona-Krise lernen?
Die Strategien, die mir damals halfen, können einem in jeder schwierigen Situation helfen. Das Allerwichtigste ist es, zu akzeptieren, dass es ist, wie es ist – und daraus das Beste zu machen. Man muss vermeinden, in eine Negativspirale zu rutschen. Das schwächt das Immunsystem und raubt einem die Kraft.
Und wenn man in dieser Negativspirale schon drinsteckt?
Damals im Dschungel lud uns ein Schicksalsgenosse aus Südafrika jeden Abend bei Sonnenuntergang zu einem Gebetskreis ein. Ich fand das sehr hilfreich. Nicht, weil ich besonders gläubig wäre, sondern weil wir dort für alles dankten, was gerade positiv war: Dass es nicht geregnet hat und wir trocken geblieben sind. Dass eine Gemüselieferung angekommen ist und wir nicht nur Reis zu essen hatten. Das half mir, im Desaster das Positive nicht aus den Augen zu verlieren.
Unser Leben ist auch gerade nicht leicht. Was, wenn das noch lang so bleibt?
Es gibt immer etwas, das man in seinem Alltag verbessern kann, um es leichter für sich selbst zu machen. Wer handelt, fühlt sich gleich weniger ausgeliefert.
Haben Sie noch Kontakt zu den anderen Geiseln?
Ja, manche waren lang in Therapie und hatten grosse Mühe, wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Es ist aber auch toll zu sehen, welche Blüten diese Krise getrieben hat. Einer meiner Schicksalsgenossen hatte besonders grosse Angst. Um seine Panik in Schach zu halten, hat er damals gemalt. Später hat er sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie man Gefühle, insbesondere Angst, in der Kunst ausdrücken kann. Heute ist er der wohl bedeutendste Experte für zeitgenössische Kunst in Finnland und kuratiert gerade die grösste Ausstellung, die es dort jemals gegeben hat. Ohne die Entführung wäre diese Expertise vermutlich nicht entstanden.