Was Sie über das nächtliche Zähneknirschen wissen sollten
- Text: Helene Aecherli
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Stress wird oft via Kiefer verarbeitet. Die Folge: Zähneknirschen, im Fachjargon Bruxismus. Jens Christoph Türp, Professor für Zahnmedizin, über ein weit verbreitetes, kaum beachtetes Leiden.
annabelle: Jens Türp, will man den Einschätzungen von Zahnärzten glauben, knirschen sich etwa dreissig Prozent der Schweizer die Zähne ab. Stimmt das?
Jens Türp: Ja, 20 bis 30 Prozent ist realistisch.
Nun ist knirschen aber nicht gleich knirschen?
Nein, man muss zwischen Zähneknirschen und Kieferpressen unterscheiden – beides im Fachjargon Bruxismus genannt –, und dann wiederum, ob im Wach- oder im Schlafzustand gebruxt wird. Tendenziell wird im Wachzustand eher gepresst, man beisst buchstäblich die Zähne zusammen, im Schlafzustand eher geknirscht.
Über die Zähne, heisst es, wird vor allem Stress verarbeitet. Bruxen ersetzt sozusagen den Sandsack?
Genau. Emotionaler Stress ist die Hauptursache für Knirschen und Pressen. Alkohol, Kaffee oder Tabak können aber ebenso Auslöser dafür sein wie Psychopharmaka oder Drogen, etwa Amphetamine, LSD oder Heroin. Dem Knirschen und Pressen liegt eine erhöhte Unterkiefertätigkeit zugrunde, die in diesen Fällen durch die Ausschüttung des Hormons Dopamin ausgelöst wird. Vielleicht könnte man auch sagen: Knirschen ist ein unbewusstes Abstützen des Körpers auf das Gebiss. In anderen Fällen stecken hinter dem Bruxen Krankheiten wie ADHS oder das Restless-Leg-Syndrom. Erwachsene können die Kiefergelenke beim Bruxen mit ungeheurer Kraft zusammenpressen. Das ist gravierend. Richtig. Oft wird mit 450 bis 500, teilweise sogar mit bis zu 1200 Newton gepresst. Das heisst, da lasten zwischen 45 und 122 Kilo auf Zähnen und Kiefergelenken. Zwar bruxt man nicht die ganze Zeit, sondern phasenweise, Sekunden, Minuten, doch können so gut und gern Stunden zusammenkommen. Das ist beachtlich, wenn man davon ausgeht, dass die Zähne innerhalb von 24 Stunden normalerweise rund zwanzig Minuten Kontakt haben. Wenn Sie kauen, haben die Zähne so gut wie keinen Kontakt, dann sind ja die Speisen dazwischen.
Welche Folgen kann das Knirschen haben?
Typische Symptome sind morgendliche Verspannungen, ganz besonders im Massetermuskel, der vom Jochbein der Wange entlang nach aussen zum Unterkiefer führt. Der Muskel ist dann von der nächtlichen Arbeit schlicht überlastet. Zudem ist Bruxismus ein Risikofaktor für Kiefermuskel- und Kiefergelenkschmerzen sowie für unspezifische Zahnschmerzen. Zahnärzte suchen bei solchen Symptomen oft verzweifelt nach der Ursache und denken nicht daran, dass eine Überlastung des Zahnhalteapparats durch Knirschen oder Pressen heftige Schmerzen hervorrufen kann.
Verursacht Bruxen Stummelzähne im Alter?
Knirschen führt zum Abrieb der Zähne, ja. Aber Stummelzähne sind höchst selten.
Wie erkennt man, dass man bruxt?
Man erkennt Bruxismus daran, dass die normalerweise verschieden stark aus dem Kiefer herausragenden Frontzähne alle auf einer Ebene sind. In einem intakten Gebiss sind die oberen mittleren Schneidezähne länger als die seitlichen, während die Eckzähne etwas höher stehen und typischerweise eine spitze Form haben. Bei einem Bruxer kann man ein Lineal von einem Eckzahn zum anderen legen, da hats keinen Spalt mehr dazwischen. Ein anderes Indiz ist ein keilförmiger Defekt im Zahnhalsbereich, dort, wo die Krone in die Wurzel übergeht. Er sieht aus, als ob eine Axt in den Zahn gehauen worden wäre. Früher wurde das oft als Folge einer falschen Zahnputztechnik missinterpretiert. Man soll Bruxer auch daran erkennen, dass sie eine ausgeprägte Kiefermuskulatur haben. Das stimmt, ist aber längst nicht bei allen so. Man hört immer wieder, dass nächtliches Zähneknirschen so laut sein soll wie Schnarchen. Dies ist ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Fast jeder Patient, den ich darauf aufmerksam mache, dass er oder sie bruxt, sagt: «Mein Mann oder meine Frau hat nie etwas gehört.» Dann sag ich immer: «Nein, denn es produziert keine Geräusche, von denen man aufwacht.» Zwar sind manche Leute in der Lage, laute Geräusche zu produzieren, aber die sind die Ausnahme.
Die gängigste Anti-Knirsch-Therapie ist eine Zahnschiene. Die ist doch nur Symptombekämpfung, oder?
Darf ich ausholen? Ich habe mir für die Therapie die Kurzformel SMS einfallen lassen. S steht für Selbstbeobachtung: Sind die Zähne jetzt gerade in Kontakt oder nicht? Man muss sich erst bewusst werden, dass man bruxt. M steht für Muskelentspannung: Wie zähme ich den emotionalen Stress und seine Auswirkungen? Durch Entspannungsverfahren kann man erreichen, dass man weniger heftig und weniger häufig presst. Abstellen kann man es nicht. Das bekannteste Verfahren ist die progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Yoga oder autogenes Training tun es aber auch. Das zweite S steht für Schiene. Es gibt viele Schienentypen, aber nur einen Goldstandard, und der ist die Michiganschiene. Die bewährt sich seit fünfzig Jahren. Man trägt sie im Oberkiefer, sie bedeckt alle Zähne, ist ganz flach und glatt und hat im Eckzahnbereich Rampen. Sie schützt die Zähne vor Abrieb und leitet Kräfte gleichmässig ab.
Irgendwie furchtbar unsexy.
Na ja, es gibt Schlimmeres. Wer sich nun vor lauter Bruxen die Haare rauft, kann sich damit trösten, dass bereits in der Bibel mit den Zähnen geknirscht wurde. Selbst Goethe liess den unglücklich verliebten Werther unter Zähneknirschen leiden. Zähneknirschen ist eine anthropologische Konstante.
Jens Christoph Türp ist Spezialist für Funktionsdiagnostik und -therapie an der Klinik für rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel