Auch gerade so furchtbar antriebslos und lethargisch? Laut der Körperpsychotherapeutin Eva Kaul ist das sogenannte «Pandemic Burnout» kein Wunder: Unser Stresssystem sei für eine jahrelange Pandemie nicht gemacht, sagt sie. Aber sie verrät auch ein paar Tipps, die helfen können.
annabelle: Frau Kaul, warum ist der zweite Lockdown für viele deutlich schwerer auszuhalten als der erste?
Eva Kaul: Weil nach einem Jahr Pandemie die Luft raus ist. Im ersten Lockdown waren viele Leute motiviert, das Beste aus der Situation zu machen und die Zeit zusammen durchzustehen. Für mich in meiner Praxis war damals fast keine Veränderung spürbar. Mittlerweile setzt die Pandemie den allermeisten Menschen psychisch zu.
Was erleben Sie aktuell in Ihrer Praxis?
Auffallend ist, dass ich jeden Tag mehrere neue Anfragen bekomme – insbesondere auch von jungen Menschen zwischen 18 und 30, die sich in punkto Ausbildung oder Beruf in Übergangssituationen befinden und stark verunsichert sind. Die meisten von ihnen melden sich wegen Symptomen einer Angststörung. Zudem erlebe ich schwere Rückfälle bei Personen mit Depressionen. Und dann ist eben diese allgemeine Lethargie sehr verbreitet.
Wie äussert sich die genau?
Man ist körperlich antriebslos, kommt schwer in die Gänge, hat Mühe, etwas anzupacken. Auf der emotionalen Ebene äussert sich Lethargie durch eine bedrückte, deprimierte, resignative Stimmung. Viele sehen kein Licht am Ende des Tunnels – oder sie wollen dem noch nicht trauen. Ohnmachtsgefühle machen sich breit. Und auch geistig, kognitiv ist Lethargie spürbar: Man ist ideenlos und fühlt sich träge und dumpf im Kopf.
Kann Lethargie eine Vorstufe zur Depression sein?
Ja, in der Tat. Wenn die Symptome deutlich ausgeprägt sind und länger als zwei Wochen anhalten, spricht man schon von einer depressiven Episode.
Demnach erleben momentan wohl ganz schön viele Menschen eine depressive Episode.
Davon ist auszugehen, ja. Die meisten sind noch funktional – sie können ihrer Arbeit nachgehen, ihre Kinder versorgen, den Haushalt stemmen. Aber sie empfinden bei alldem wenig Freude, haben das Gefühl, sie stecken fest und sehen kaum Zukunftsperspektiven. Die Tage, Wochen werden als ein einziger Brei empfunden. Interessant ist: Lethargie tritt nicht einfach so auf – evolutionsbiologisch hat sie durchaus ihre Funktion.
Nämlich?
Bei Tieren spricht man vom Totstellreflex, der eintritt, wenn im Angesicht des Feindes das aktive Fliehen oder Kämpfen ausweglos ist. Dieses Totstellen hat zwei Vorteile: Entweder, das Tier wird gar nicht erst gefressen. Oder aber, es wird gefressen, spürt dabei jedoch weniger, weil es, wie bei einer Anästhesie, körperlich betäubt ist.
Was hat das mit uns Menschen zu tun?
Unser Stresssystem ist genau dasselbe. Problematisch ist, dass es nur auf kurzfristigen Stress angelegt ist – nämlich auf Situationen, in denen, evolutionsbiologisch gesprochen, ein Höhlenbär vor uns steht. Diese Starre ist nicht als Dauerzustand vorgesehen – aber genau das erleben wir gerade, weil unser Organismus nun mal auf die Mechanismen zugreift, die er zur Verfügung hat.
Und nun?
Nun ist es erstmal wichtig, dass wir uns eingestehen: Ja, ich bin zurzeit antriebslos und lethargisch – und das ist auch okay so. Wer sich darüber ärgert, potenziert das eigene Leid. Auch essentiell ist, zu versuchen, sich in Akzeptanz zu üben, ohne zu resignieren. Sich also immer wieder zu sagen: Die Situation ist jetzt, wie sie ist – aber sie wird auch definitiv wieder vorübergehen. Es geht vorbei!
Gibts noch etwas, das hilft?
Ich vergegenwärtige mir abends beim Zubettgehen drei Dinge, für die ich an diesem Tag dankbar bin. Und anschliessend drei Dinge, auf die ich mich am nächsten Tag freue. Das können ganz kleine Sachen sein, wie zum Beispiel das Zmorgemüesli oder das Kraulen meiner Katze. Ich weiss – dieses Ritual kann Überwindung kosten, vor allem, wenn man sich gerade generell so antriebslos fühlt. Aber ich mache das jetzt seit dem Herbst und spüre deutlich, was es verändern kann. Allermeistens, wenn ich morgens aufstehe, freue ich mich auf den anstehenden Tag.
Was, wenn man merkt, dass man sich im Austausch mit anderen gegenseitig runterzieht? Immerhin sind gerade die meisten ziemlich mies drauf.
Ja – und viel zu erzählen hat man sich aktuell ja auch nicht wirklich. Aber das Schöne ist, dass wir uns ja nicht nur über Sprache begegnen können. Man kann auch gemeinsam Sport machen, einen Film schauen, meditieren oder schweigend miteinander spazieren gehen. All das schüttet ebenso Oxytocin aus – und so entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, auch wenn niemand ein Wort sagt.
Dr. Eva Kaul arbeitet in Winterthur als Körperpsychotherapeutin.
Falls Sie sich seit mehr als zwei Wochen anhaltend traurig fühlen, sich an nichts mehr erfreuen, nichts mehr geniessen können, Schlafprobleme oder grosse Ängste haben, sollten Sie das unbedingt ernst nehmen. Bei der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression finden Sie Hilfe. Auf Sanasearch können Sie themenspezifisch und und unkompliziert nach krankenkassenanerkannten Therapeutinnen und Therapeuten suchen.